Patient Kind:Ein Schlag aus dem Nichts

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Etwa 300 Kinder und Jugendliche erleiden jedes Jahr in Deutschland einen Schlaganfall. Ein Interview mit Ronald Sträter vom Universitätsklinikum Münster.

Markus C. Schulte von Drach

Ronald Sträter ist Kinder- und Jugendmediziner am Universitätsklinikum Münster, wo er Kinder nach Schlaganfällen behandelt. Seit mehr als zehn Jahren arbeitet er an einer Langzeitstudie zu diesem Thema.

Ronald Sträter mit der dreijährigen Pauline R. beim Ultraschall. Das Mädchen hat vor einem halben Jahr einen Schlaganfall erlitten. (Foto: Foto: Uniklinikum Münster)

sueddeutsche.de: Schlaganfälle - dabei denkt man eigentlich immer an ältere Menschen und an Ursachen wie Bluthochdruck, Diabetes oder Rauchen. Ihre Patienten sind allerdings alles andere als alt.

Ronald Sträter: Ja. Schlaganfälle können auch jüngere Menschen betreffen, selbst Jugendliche, Kinder und Neugeborene. Zum Glück kommt es aber eher selten dazu.

sueddeutsche.de: Wieviele Fälle gibt es pro Jahr in Deutschland?

Sträter: Etwa 300 Kinder und Jugendliche. Ein Drittel davon sind Neugeborene, die um die Geburt herum einen Schlaganfall erleiden.

sueddeutsche.de: Was sind die Ursachen?

Sträter: Bei Kindern finden sich nicht die klassischen Ursachen wie bei Erwachsenen, die tatsächlich mit Fettstoffwechsel-Erkrankungen, Bluthochdruck und Rauchen zusammenhängen.

Ein Großteil der Kinder hat genetisch bedingte Gerinnungsstörungen: Ihr Blut ist zu "dick", es bilden sich schneller Gerinnsel, die mit dem Blutstrom in das Gehirn gelangen und dort Blutgefäße verstopfen können. Ein weiterer Risikofaktor sind angeborene Herzfehler oder Herzerkrankungen.

Außerdem können Gefäßerkrankungen wie Entzündungen - etwa durch Infektionen wie Windpocken - oder auch Einrisse durch Verletzungen zu gefährlichen Gefäßverengungen führen. Gerade diese Gefäßverengungen kann man heute durch die Weiterentwicklungen in der Diagnostik mittels Kernspintomographie und Ultraschall nachweisen.

sueddeutsche.de: Welche Rolle spielt die Geburt?

Sträter: Infektionen, Stress oder Sauerstoffmangel unter der Geburt sind wichtige Risikofaktoren. Außerdem gibt es zu diesem Zeitpunkt bei Kindern noch ein "Loch" in der Herztrennwand, durch das ein Gerinnsel in die Arterien gelangen kann, die zum Gehirn führen.

Allerdings haben wir inzwischen gelernt, dass es für die Entstehung eines Schlaganfalls im Kindesalter meist nicht eine einzige Ursache gibt, sondern ein Zusammentreffen mehrerer Gründe vorliegt - etwa ein Herzfehler und außerdem noch eine Gerinnungsstörung.

sueddeutsche.de: Lässt sich das Schlaganfall-Risiko bei Kindern vor dem ersten Hirninfarkt absehen?

Sträter: Nein. Anders als bei Erwachsenen, die ihre Risikofaktoren häufig kennen, kommen Schlaganfälle bei Kindern immer mehr oder minder aus dem Nichts. Es ist keine Vorbeugung möglich.

sueddeutsche.de: Wenn es genetisch bedingte Risiken gibt - könnten in der Zukunft nicht Gentests helfen?

Sträter: Es gibt eine ganze Reihe von Faktoren, die das Risiko erhöhen. Aber sie bedeuten nicht, dass ein betroffenes Kind auf jeden Fall einen Schlaganfall erleiden wird. Die Testergebnisse könnten zum Beispiel zeigen, dass bei einem Kind eine Gerinnungsstörung vorliegt - aber sie sagen nicht, dass es auch einen Schlaganfall erleiden wird. Sie zeigen nur , dass ein höheres Risiko besteht.

sueddeutsche.de: Ist das allein nicht schon sehr wichtig?

Sträter: Sie müssen das in den richtigen Relationen betrachten. Es gibt zum Beispiel eine bestimmte Mutation, die das Risiko für einen Schlaganfall bei Kindern etwa um das Sechsfache erhöht. Das Sechsfache von drei pro 100.000 Kindern pro Jahr ist 18 pro 100.000. Das Risiko ist damit noch immer relativ gering. Andererseits besteht die Gefahr, dass die betroffenen Kinder stigmatisiert werden.

Was wir in Münster aber machen ist, Familien, in denen ein Schlaganfall bei einem Kind aufgetreten ist, ausführlich zu untersuchen und individuell zu beraten. Bei einem hohen familiären Risikoprofil für die Entstehung von Blutgerinnseln in einer Familie zum Beispiel kann man sich dann auf darauf einstellen und gegebenenfalls vorbeugende Maßnahmen ergreifen.

sueddeutsche.de: Woran erkennt man einen Schlaganfall bei Kindern?

Sträter: Das ist ein Problem. Tatsächlich dauert es heute in der Regel noch mindestens einen Tag, bis nach dem Beginn der Symptome die richtige Diagnose gestellt wird. Das liegt natürlich auch daran, dass z.B. Kleinkinder die Symptome nicht oder nur schlecht beschreiben können. Wenn ein Dreijähriger nach dem Kindergarten einen Arm nicht mehr richtig bewegen kann, denken die Eltern eher an andere Ursachen wie an einen Sturz von der Rutsche als an einen Schlaganfall.

sueddeutsche.de: Bei Neugeborenen ist die Diagnose dann vermutlich noch schwieriger?

Sträter: Wenn Kinder nach der Geburt eine muskuläre Schwäche zeigen, können tatsächlich auch viele andere Ursachen verantwortlich sein, etwa Erschöpfung nach der Geburt. Die Symptome durch einen Schlaganfall im Kindesalter sind leider oftmals unspezifisch.

Es sind allerdings weniger die Eltern, die einen Schlaganfall erkennen müssen - die gehen sowieso meist zum Arzt, wenn ihnen bei ihrem Kind etwas auffällt. Es ist notwendig, Mediziner auf die Erkrankung aufmerksam zu machen und dafür zu sensibilisieren, so dass sie einen Schlaganfall erkennen und die notwendigen Maßnahmen einleiten können. Wir unterstützen das durch Fortbildungen und Vorträge.

sueddeutsche.de: Wenn es soweit ist, was kann man tun?

Sträter: Man versucht, im Krankenhaus etwa mit Hilfe einer Kernspintomographie die Ursache zu identifizieren. Dann werden, je nach der individuellen Risikoeinschätzung, kurz- oder langfristig gerinnungshemmende Mittel eingesetzt.

sueddeutsche.de: Das bedeutet höhere Blutungsgefahr. Wie soll man einem kleinen Kind erklären, dass es besonders vorsichtig sein soll, um Verletzungen zu vermeiden?

Sträter: Das ist ein Problem. Einen Erwachsenen kann man auffordern, keine Kontaktsportarten mehr zu betreiben. Einem Dreijährigen das Toben zu verbieten, ist schwierig. Und Kinder, die gerade Laufen lernen, fallen häufig hin. Es gibt kein pauschales Behandlungs-Modell, sondern man muss für jedes Kind und jede Familie eine individuelle Behandlung erarbeiten.

sueddeutsche.de: Und diese Behandlung dauert den Rest des Lebens?

Sträter: Nicht unbedingt. Derzeit versuchen wir zusammen mit kanadischen und europäischen Kollegen, Daten zu erheben, um herauszufinden, welche Kinder ein hohes Risiko besitzen und wann es erneut zu Schlaganfällen kommen kann. Erste Ergebnisse zeigen, dass das Risiko für einen zweiten Schlaganfall in den ersten zwei Jahren nach dem ersten Vorfall am höchsten ist. Danach nimmt es deutlich ab.

sueddeutsche.de: Wie kommt das?

In manchen Fällen können sich die zugrunde liegenden Erkrankungen und Risikofaktoren verbessern - Gefäßverengungen können sich im Kindealter zurückbilden, ja sogar ganz verschwinden, viele Herzfehler können operiert werden. Dann kann man vielleicht mit der Behandlung aufhören. Aber es gibt auch Fälle von Kindern, die müssen langfristig, vielleicht sogar ihr ganzes Leben Medikamente nehmen.

sueddeutsche.de: Können sich Kinder von den Folgen eines Schlaganfalls wieder erholen?

Sträter: Das Gehirn von Kindern hat eine hohe Flexibilität. Gerade für Schlaganfälle um die Geburt herum weiß man, dass nicht betroffene Regionen die Funktionen von zerstörten Hirnbereichen übernehmen können. Aber das hat Grenzen. Selbst bei einem großen Schlaganfall mit halbseitiger Lähmung können zwar Verbesserungen mit bestimmten Förderungsmaßnahmen erzielt werden - aber häufig kommt es doch zu bleibenden Schäden, zu Entwicklungsstörungen, etwa auch zu Wachstumsstörungen im betroffenen Bein. Manche Kinder haben auch Lernschwierigkeiten.

sueddeutsche.de: Ist es nicht furchtbar, schon die Kleinsten der Kleinen als Schlaganfall-Patienten zu behandeln?

Sträter: Als Kinderarzt muss man ja darauf gefasst sein, dass man es mit sehr kleinen Patienten zu tun hat. Wir können Krankheiten wie Schlaganfälle leider nicht aus der Welt schaffen. Aber es ist schön, wenn man sieht, dass man helfen kann.

Förderverein "Schlaganfall und Thrombosen im Kindesalter" Spendenkonto Sparkasse Münster-Ost BLZ 400 501 50 KNr 340 442 89

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