Medizin und Wahnsinn (75):Ganzheitlich würgen

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Für die vermeintlich Besserverstehenden in unserer Gesellschaft sind "elende" Schulmediziner nicht mehr gut genug. Sie erwarten von der Homöopathie Wunder.

Werner Bartens

Dieser unstillbare Reiz, jemanden zu würgen, stellt sich immer dann ein, wenn das Wort "Schulmedizin" fällt. Kommt eine Kollegin ins Zimmer, klagt, setzt sich auf mein gelbes Sofa, klagt weiter. Ihr Arzt sei so ein engstirniger Schulmediziner, sagt sie. Sie wünscht sich jemanden, der "einen ganzheitlichen Ansatz" hat und sie "natürlich" behandelt.

Nachdem die Kollegin erwürgt worden war, besuchte er eine Tagung. (Foto: Foto: iStockphotos)

Schon ist er wieder da, dieser akute Würgereiz. Die zuverlässigsten medizinischen Reflexe lassen sich längst nicht mehr unterhalb der Kniescheibe auslösen. Vielmehr kommen sie immer dann in Gesprächen über die Heilkunde zum Vorschein, wenn Ideologie und Therapie nicht zusammenpassen.

Antidepressiva kennt man in Kreisen der vermeintlich Besserverstehenden nur noch als "Psycho-Hammer". Wird jemandem im Krankenwagen, auf der Intensivstation oder in der Notaufnahme das Leben gerettet, "hängt" er an "Schläuchen und Kabeln" - obwohl die Patienten dort in der Regel liegend untergebracht sind. Und eine Operation ist natürlich nur nötig, "weil Ärzte operieren und ihren Katalog vollbekommen müssen".

Kritische Journalisten kennen das superkritische arznei-telegramm, das so unabhängig und anzeigenfrei ist, dass es kleingeschrieben wird, nur noch als "pharmakritisches" oder wie es der Spiegel jüngst ganz ganzheitlich ausdrückte "industriekritisches" arznei-telegramm. Oh, wie schön ist Panama.

Besonders hübsch wird es, wenn es um pflanzliche Arzneimittel geht, die Patienten gerne von Heilern mit ganzheitlichem Ansatz in Empfang nehmen. Das wird dann zur religiösen Ersatzhandlung, und der Hohepriester der Gesundheit überreicht das Kraut wie eine Hostie.

Die Mär vom Druiden

Auch wenn Mistelpräparate, Johanniskraut und Baldrian längst millionenfach über den Apothekentresen gehen und industriell gefertigt und abgepackt werden, bleibt beim Käufer die Illusion, ein Druide - oder gendermainstreammäßig korrekt: eine Kräuterhexe - habe den heilenden Farn persönlich für sie mit der Sichel von Stängel oder Stamm geköpft und naturtrüb in Ampulle oder Tablette gepresst.

Manchmal möchte man diesen Graswurzelfundamentalisten einen biopharmakologischen Aufbaukurs an den Hals wünschen, in dem sie erfahren, was die garstige Schulmedizin für Pfeile im Köcher hat. Acetylsalicylsäure, das der bösen Pharmariese Bayer als Aspirin verkauft, ist ein Wirkstoff der Weidenrinde.

Das Gichtmittel Colchizin ist aus Herbstzeitlosen extrahiert worden. Die meisten Antibiotika stammen aus Pilzen. Die Substanzgruppe der Taxane, die in der Krebsmedizin verwendet werden, kommen in der Eibe vor. Digitalis-Präparate zur Behandlung der Herzschwäche sind die Bestandteile des Fingerhuts.

Was hat hingegen der natürliche und naturnahe Homöopath zu bieten? Schwermetalle, Arsen, Blei, Quecksilber oder eine Pflanze mit dem schönen Namen Brechnuss, die Strychnin enthält. Die Ausrede, wonach die Verdünnung bei Homöopathens so groß ist, dass eh kein Molekül mehr in den Kügelchen enthalten ist, zieht nicht. Es kam schon zu Strychnin-Vergiftungen, weil die Verdünnung zu niedrig ausgefallen war.

Nachdem die Kollegin erwürgt worden war, besuchte ich eine Tagung. In fast allen Vorträgen ergänzten sich Psychologen, Ärzte, Hirnforscher, Meditationslehrer und andere Therapeuten in ihren Ansichten.

Die Hirnströme und die Energieflüsse und die Vibrationen fanden auf wunderbare Weise zueinander und ließen sich gelten. Alle Seiten fanden ein paar Belege für die Wirksamkeit der anderen Methode, der Schulenstreit schien sich plötzlich in vielfältiger Einigkeit aufzulösen.

Es dunkelte bereits, da erhob sich im Publikum eine bebende Stimme. Eine junge Frau meldete sich und klagte, dass ihr Arzt ein elender Schulmediziner sei. Sie suche aber eher den ganzheitlichen Ansatz.

© SZ vom 18.04.2009/mmk - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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