Medizin und Wahnsinn (5):Deutung aus den Eingeweiden

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Der erste Advent, das erste Kind kotzt. Der zweite Advent, und so fort... Unser Autor hat dieses Mal auf seinem Sofa einen völlig entnervten Familienvater sitzen - der psychischen Beistand braucht.

Werner Bartens

Der erste Advent, das erste Kind kotzt. Das liegt an den Antibiotika, die es gerade gegen die Streptokokken im Hals nimmt, sagt die Frau. Die Familie herzt sich, die Familie küsst sich, der Adventskalender ist stummer Zeuge. Zwei Tage später, das zweite Kind kotzt.

Übelkeit: Entweder waren es zu viele Plätzchen oder es geht mal wieder ein Virus um - pünktlich in der Vorweihnachtszeit. (Foto: Foto: ddp)

Es hat zu wenig geschlafen am Wochenende, sagt die Frau. Immer wenn es ihm zu viel wird und es aufgeregt ist, schlägt es ihm auf den Magen, sagt sie. Kerzenschein und Kamillentee, die Familie hat sich immer noch lieb. Eine Nachbarin bringt Orangen. Danke, aber die Säure, sie wissen schon, der Magen. Das Plätzchenbacken wurde auch verschoben.

Der dritte Tag, das dritte Kind kotzt. Es ist die Eingewöhnung an die neue Kindergruppe, sagt die Frau. Wie soll es das alles so schnell verarbeiten, die neuen Spielkameraden, der Wechsel der Erzieherin. Dann fährt die Frau auf eine Fortbildung, schließlich braucht sie ja auch mal Zeit für sich.

Jetzt sitzt der Mann auf meinem gelben Sofa, ist kaum zu verstehen, so leise kehrt er sein Innerstes nach Außen. Sein Gesicht sieht Gelb und gleichzeitig auch Grün aus. Hat das Sofa eigentlich schon immer diese seltsamen Flecken gehabt? "Nach den Kindern war ich dann dran und habe mich übergeben müssen", schildert der Mann den weiteren Verlauf der heimischen Epidemie.

Er will ins gastroenterologische Detail gehen, aber das tut nichts zur Sache. "Meine Frau hat nur gesagt, ich würde psychisch überreagieren und mich immer gleich überlastet fühlen, wenn sie mal wegfahren will und ich allein mit den Kindern bin." Er fühlt sich schuldig, ihr Schuldgefühle gemacht zu haben mit seinem Leiden. Dabei kann er längst noch nicht wieder alles essen, so hartnäckig blümerant ist ihm um den Bauchnabel herum.

"Haben Sie Stress?"

Ein Moment der Stille und vorweihnachtlichen Andacht durchzieht den Raum. Es riecht mittlerweile ein wenig nach jemandem, der schon längere Zeit nichts mehr gegessen hat. Das gelbe Sofa umhüllt ein Hauch von Sternenstaub. Dann fährt der Mann in seinen Schilderungen fort, es fällt ihm sichtlich schwer: "Meine Frau hat von unterwegs aus angerufen", sagt er: "Sie hat es dann auch erwischt. Die halbe Fortbildung hat sie versäumt, weil sie immer im Hotelzimmer sein musste." Er habe sich dann wirklich jede hämische Bemerkung verkniffen, ob es wohl am Trennungsschmerz liege, dass sie sich jetzt ebenfalls übergeben müsse.

Nachsichtig und weise hat er gehandelt. Wer gerade permanent mit den Eingeweiden beschäftigt ist, möchte nicht mit psychosomatischen Deutungen seiner Innereien traktiert werden. So eng der Zusammenhang von körperlichem und psychischem Befinden auch ist: Die Ärzte sollte man würgen, die auf jedes Ekzem, jede Migräne-Attacke und jeden Hexenschuss, den man ihnen darbietet, erstmal stereotyp fragen: "Haben Sie Stress?" Darf man etwa keine medizinische Hilfe erwarten, wenn man Stress hat? Sind nur Ausgeglichene und Zufriedene auserwählt für eine Therapie?

Die Fallgeschichte ergab dann übrigens, dass die Familie von einem Noro-Virus erwischt wurde. Innerhalb eines Tages wird einem so speiübel, dass sich endzeitliche Gedanken einstellen. Die Genesung verläuft ähnlich rasant. Als die Frau dann euphorisch und gesund von der Fortbildung zurückkam, hatte sie Adventszubehör mitgebracht. Mit letzter Kraft konnte der Mann auf dem gelben Sofa die Therapieempfehlungen seiner Frau wiedergeben: "Sie hat gesagt, dass wir mehr zur Ruhe kommen müssen, um nicht mehr so anfällig zu sein." Ich habe ihn erstmal in Urlaub geschickt, der Mann war psychisch völlig am Ende.

© SZ vom 8. - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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