Medizin und Wahnsinn (47):Besoffen vom eigenen Leib

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Es wird beklagt, Patienten belasten durch Ärzte-Hopping das Gesundheitssystem. Schlimmer noch sind aber die "Symptom-Hopper".

Werner Bartens

Er ist unerreicht als Experte für körperliche Übersprungshandlungen. Ein Tausendsassa des Leidens und deshalb ein gesuchter Gesprächspartner. Es gibt nur wenige Regionen in seinem Körper, von denen er noch keine Schmerzsignale empfangen hat und denen er bisher nicht eine Dehnung, Zerrung, Kolik oder -itis entlocken konnte.

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Eine Weile war er zwar fast ausschließlich orthopädisch fixiert, aber inzwischen ist er auch offen für andere Fachbereiche. Zudem hat er den Reiz interdisziplinärer Beschwerden entdeckt. Wenn Orthopäde, Neurologe, Hausarzt und Chirurg ihn im Kreis herum überweisen, weil ihr diagnostisches Rätselraten zu keinem Ergebnis führt, bereitet ihm das diebische Freude.

Lange Zeit hatte er nur sein rechtes Knie im Blick, doch das war ihm bald zu eindimensional und fad. Er war deshalb schon viel besserer Laune, als er kürzlich auf meinem gelben Sofa darüber klagen konnte, dass ihn neuerdings die rechte Hüfte so schmerzen würde.

Er hatte das unerwartete Symptom als Hilferuf eines bisher vernachlässigten Körperteils verstanden, das auf diese Weise seiner Eifersucht auf das Knie Ausdruck verlieh. Die gegoogelten Diagnosen Hüftkopfnekrose und springende Hüfte übten aber auch einen starken Zauber auf ihn aus. Hüftkopfnekrose hatte so etwas Morbides und eine springende Hüfte erschien ihm wie eine verspätete Reminiszenz an seine Jugend im Turnverein.

Allerdings war bei ihm weniger die Hüfte sprunghaft als vielmehr sein Wesen. Was Goethe über seinen frühen Weggefährten Jakob Michael Reinhold Lenz sagte, mochte auch für den Kollegen gelten: "Für seine Sinnesart wüßte ich nur das englische Wort whimsical, welches, wie das Wörterbuch ausweist, gar manche Seltsamkeiten in einem Begriff zusammenfaßt."

Denn am nächsten Tag klagte er auf dem gelben Sofa nicht mehr über seine wie auch immer malade Hüfte. Jetzt war es plötzlich der Fußrücken am Übergang zum Unterschenkel, der schmerzte. Er hatte sogar das Gefühl, ein bisschen zu lahmen.

Als der Kollege aus dem Überblicksressort, der schon länger auf dem Wartesofa vor dem gelben Sofa gesessen hatte, drankam und erzählte, dass der Arzt statt einer Achillessehnenschwäche bei ihm eine S1-Läsion vermuten würde, wurde der an Knie, Hüfte und Fuß geschlagene Kollege neidisch und wollte das auch haben.

Dabei hatte er zuvor für das Kompartement-Syndrom geschwärmt - einen auf Überlastung zurückgehenden Überdruck an der vorderen Schienbeinseite, der Nerven und Blutgefäße so empfindlich komprimieren kann, dass in vielen Fällen operiert werden muss.

Er konnte sich nicht für ein Symptom entscheiden. Er wollte sich noch bis zum nächsten Morgen überlegen, was ihm am meisten weh tat. Am kommenden Tag hatte er dann allerdings Kopfschmerzen. Ihn drückte und piesackte das Hirn in der Schale. Er war müde, seine Augen waren ein bisschen geschwollen. Die Strategie war einfach zu durchschauen. Immer, wenn ihm ein Symptom zu nahe kam, wechselte er schnell zu einem anderen.

Ärzte, Krankenkassen und Gesundheitspolitiker beschwören regelmäßig die Gefahren durch Doktorhopping. Alles halb so schlimm. Das tatsächliche Problem sind die Symptom-Hopper, die nicht bei ihren Beschwerden bleiben können und daher ständig Ärzte mit immer wieder neuen Zipperlein beschäftigen. Furchtbar, diese Patienten, denen jegliche Konstanz fehlt.

Der Kollege machte in den nächsten Tagen eine überraschende Wende durch. Er hatte jeden Tag Kopfschmerzen, war jeden Tag müde, bekam jeden Tag die Augen nur mühsam auf. Statt an den naheliegendsten Grund - seinen erheblichen Alkoholkonsum in dieser Zeit - zu denken, bekam er Angst. "Ich habe immer das Gleiche - ich glaube, jetzt bin ich krank", klagte er auf dem gelben Sofa.

© SZ vom 04.10.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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