Medizin und Wahnsinn (42):Ein Darm zum Verzweifeln

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Verreisen ist eine schöne Sache. Nicht so für Hypochonder. Insbesondere der Blinddarm macht ihnen allzu oft einen Strich durch die Rechnung.

Werner Bartens

Er war nicht nur ein begnadeter Hypochonder, sondern auch ein Meister der Prokrastination. So nannte er das selbst, weil ihm der Begriff "aufschieben" viel zu schnöde für seine kunstvolle Technik erschien, alles bis zum letzten Moment hinauszuzögern oder sogar für die Ewigkeit auf die lange Bank zu schieben.

Der menschliche Darm: nicht selten bei Reisen ein Hindernis. (Foto: Foto: iStockphotos)

Jetzt tänzelte er jedoch unruhig vor meinem gelben Sofa herum, schwitzte und murmelte ständig: wohin nur, wohin? Dieses Mal duldete seine Angelegenheit offenbar keine Minute Aufschub.

Er wollte verreisen. Vielmehr hatte er das Gefühl, verreisen wollen zu sollen. Er konnte dem sozialen Druck nicht länger widerstehen. Er wollte nach dem Urlaub endlich einmal mitreden können, wenn es darum ging, das schönste Ferienerlebnis oder die waghalsigsten Abenteuer darzubieten.

Mit dem Reisen war es aber so eine Sache. Einerseits hatte er es durch beharrliches Prokrastinieren immer wieder geschafft, keine Unterkunft mehr buchen zu können und dann doch zu Hause bleiben zu dürfen. Aufs Geratewohl loszufahren, kam für ihn nicht in Frage. Andererseits machte ihm seine Hypochondrie regelmäßig einen Strich durch etwaige Reisepläne.

Besonders fürchtete er sich vor einem Blinddarmdurchbruch in der Ferne. (Er wusste, dass es der Wurmfortsatz war, der sich lebensgefährlich entzünden konnte, sprach aber lieber vom Blinddarm, das verstanden einfach mehr Leute.)

Was tun, wenn der Unterbauch platzt?

Oft hatte er schon an eine Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn gedacht. Doch die Angst vor einer lückenhaften medizinischen Versorgung in der Taiga ließ ihn jedes Mal davor zurückschrecken und er prokrastinierte lieber ein bisschen vor sich hin.

Zwar wusste er von heroischen Teilnehmern von Polarexpeditionen sowie von Schiffsreisenden, die sich mit Hilfe eines Spiegels selbst operiert hatten, als der rechte Unterbauch zu platzen drohte. Er aber wollte nicht in die Verlegenheit geraten, irgendwo zwischen Chabarowsk und Wladiwostok Hand an sich und seine noch intakte Bauchdecke legen zu müssen. Russland und lange Bahnfahrten kamen also nicht in Frage.

Auch die USA waren ein heikles Reiseziel. Seit der Kollege vom Schicksal George Washington Vanderbilts II. gehört hatte, zog es ihn nicht mehr in den weiten Westen. Der Nachkomme des Eisenbahnmagnaten hatte sich in Asheville, North Carolina, am Fuß der Blue Ridge Mountains, ein kuscheliges 250-Zimmer-Schlösschen im Stil der französischen Renaissance errichten lassen und war Weihnachten 1895 in sein Biltmore Estate eingezogen.

Dem Mann war das Glück zunächst einigermaßen hold, immerhin hatte er 1912 mit seiner Frau bereits Karten für die Titanic gelöst, die Reise dann aber kurzfristig abgesagt, sodass er nur seinen Diener und sein Gepäck in den Fluten verlor. Dann wendete sich jedoch das Blatt. Nach einem Blinddarmdurchbruch konnte Vanderbilt im Frühjahr 1914 zwar noch ins Krankenhaus gebracht werden. Die Operation überlebte der 51-Jährige aber nicht.

Um lange Reisen und eine gefährlich geringe Arztdichte zu vermeiden, kamen für den Kollegen daher nur bodenständigere Ziele in Frage. Das Ausland sollte es sein, also wählte er den tschechischen Teil des Erzgebirges.

Obwohl: Musste nicht Gregory Peck 1996 im erzgebirgnahen Karlsbad notfallmäßig ins Krankenhaus, weil seine Appendix sich entzündet hatte und die eitrige Brühe die Bauchhöhle zu fluten drohte? Nur knapp hatte der damals 80-jährige Schauspieler überlebt. Es war zum Verrücktwerden!

Der Kollege prokrastinierte verzweifelt, rang sich aber doch zu einer Wanderung im Erzgebirge durch. Er wollte kein Testament machen. Voller Pathos gab er den Daheimgebliebenen dennoch einen letzten Willen für sein delikatestes Teil mit. "Begrabt meinen Blinddarm an der letzten Biegung des Flusses, falls mir etwas zustößt", sagte er wehmütig .

© SZ vom 23.08.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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