Medizin und Wahnsinn (122):Die Minus-L-Variante

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Laktoseintoleranz ist zum attraktiven Leiden an der Zeit und der Welt geworden. Wer cool drauf ist, bestellt sich - viel beachtet - einen "Cappo minus L". Man muss das verstehen.

Werner Bartens

Wer seinem Leiden auf coole Weise Ausdruck verleihen will, hat nicht viele Möglichkeiten. Es gibt da allerdings diese vorbildlich lässigen Typen, die in der Caféteria einen "Cappuccino minus L" bestellen. Nach bisherigen Feldstudien handelt es sich dabei ausnahmslos um Frauen.

Vermutlich gehen sie evolutionär auf jene bald darauf ausgestorbene Spezies zurück, die in den 1980er-Jahren plötzlich nur noch O-Saft oder A-Schorle trinken wollte, wenn sie ein alkoholfreies Getränk (hieß das damals eigentlich "minus Promille"?) bestellte. Wer heute nicht so entspannt drauf ist, aber sich trotzdem offen zu seiner Laktoseintoleranz bekennen möchte, bestellt einen "laktosefreien Cappuccino". Diese Order gab kürzlich ein Mann auf.

Die Laktose-Intoleranz ist der mexikanische Schwanzlurch unter den Krankheiten. Kaum ist die Diagnose gerade wieder entkräftet worden, schon wachsen neue Krankheitsträger nach - wie dem Molch die zuvor abgetrennten Gliedmaßen.

Damit keinerlei Missverständnisse aufkommen: Natürlich leidet ein Teil der Menschheit - besonders in Asien und Afrika - unter einer erblich bedingten Laktoseintoleranz. Die Enzyme dieser Menschen sind zu träge, um Milchprodukte richtig verdauen zu können.

Auch in Deutschland gibt es einige Betroffene, das ist unbestritten. Mittlerweile behauptet aber jeder urbane Mittzwanziger bis Endvierziger, der seine Darmwinde nicht recht bei sich behalten kann und ein gelegentliches Drücken und Zerren in der Leibesmitte verspürt, an einer verschleppten Laktoseintoleranz zu leiden.

Als Nebenwirkung kann er dann - viel beachtet - einen "Cappo minus L" bestellen und sich weiter auf die gewissenhafte Beobachtung seines Leibes konzentrieren.

Lidl, der gläserne Lebensmittel-Discounter unseres Vertrauens, hat darauf reagiert und teilt per Presseerklärung mit, mittlerweile auch laktosefreie (und glutenfreie) Produkte im Angebot zu haben. Ob diese marktstrategische Entscheidung des Unternehmens auf intimer Kenntnis der E-Mails und Ernährungsgewohnheiten der eigenen Mitarbeiter beruht, ließ sich bis Redaktionsschluss nicht klären.

Man muss das verstehen. Der Leidensdruck der Menschen sucht sich auf verschlungenen Pfaden seine Darbietungsformen, manchmal eben als Minus-L-Variante. Der lange Winter in diesem Jahr macht es Pollen- und Gräsergeplagten besonders schwer, ihre Symptomenvielfalt auszuleben. Kein blühender Zweig und keine Birkenblüte nirgends, dabei will die Unverträglichkeit irgendwo hin und sich nicht nur mit Hausstaub und Bettmilben begnügen.

Nachdem Pilze im Darm aus der Mode gekommen sind, der letzte amalgamhaltige Mund saniert ist und die Leitungen der Elektrosensiblen isoliert wurden, ist die Laktoseintoleranz zum ungleich attraktiveren Leiden an der Zeit und der Welt geworden. Betroffene mit humanistischer Bildung können den Wortursprung herleiten. Auch heikle Themen wie die Schattenseiten der Globalisierung bleiben nicht ausgespart, wenn man eigentlich über sich und seine Verdauung reden möchte - aber es nun mal nicht für eine gute Idee hält, Milchpulver für Afrika zu spenden, weil dort so viele Menschen laktoseintolerant sind.

Gleichzeitig deutet sich hier der Triumph der in Attac-Zirkeln gestählten Politaktivisten der Nuller-Jahre über die selbstverliebten und triebgestauten Achtundsechziger an. Von den Männern der Kommune 1 ist der egozentrische Spruch überliefert: "Was geht mich Vietnam an, wenn ich Orgasmusschwierigkeiten habe." Der lässige Cappo-minus-L-Freak von heute kann darauf mit seiner ausgeruhten Eine-Welt-Rhetorik entgegnen: "Vietnam und andere zu mehr als 90 Prozent von Laktoseintoleranz betroffenen Länder gehen mich gerade deswegen etwas an, weil ich Verdauungsschwierigkeiten habe."

© SZ vom 20./21.03.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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