Männer:Hermann

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"Haben Sie eine Platzkarte": Das ist in diesem Fall keine Frage, sondern ein Befehl. Unsere Kolumnistin Johanna Adorján erlebt bei einer Bahnreise, wie es sofort eisig wird, als ein älterer Mann seinen Anspruch geltend macht.

Von Johanna Adorján

Unmerklich hat sich ein neuer Blick auf Menschen eingeschlichen. Nazi oder nicht, denke ich neuerdings immer öfter, und beim Anblick des grauhaarigen Mannes mit der akkurat geschnittenen Drittklässler-Frisur, der in Nürnberg zusteigt, lege ich mich schnell fest.

Kariertes Hemd wie ein Serienmörder aus einem David-Fincher-Film, silberne Schubertbrille, ein Schnurrbart, der aussieht wie angeklebt. Schnell und bestimmt geht er auf eine Sitzreihe zu, in der ein junger Mann friedlich auf dem Fensterplatz schläft. Der Gangplatz daneben ist frei.

"Haben Sie eine Platzkarte." Befehlston. Der junge Mann wacht auf, erfasst die Situation, setzt sich rasch auf und fragt höflich, freundlich, mit Blick auf den freien Gangplatz, ob der Mann denn auf diesem, seinem Fensterplatz sitzen wolle. "Haben Sie eine Platzkarte", wiederholt der Alte ohne irgendeine menschliche Regung.

Der junge Mann steht auf und tritt auf den Gang, um den Alten vorbeizulassen. Als er sich dann eben auf den Gangplatz setzen will, sagt der Alte, ohne ihn anzusehen, da komme noch jemand. Eisiger Tonfall. Fast ein Zischen. Der junge Mann packt nun also all seine Sachen zusammen und sucht sich einen anderen Platz im nur spärlich besetzten ICE.

Um die Geschichte abzukürzen: Natürlich kam niemand mehr. Der alte Mann hatte, eiskalt auf seinen eigenen Vorteil bedacht, gelogen. Peter Wohlleben, der Förster, der den Weltbestseller über Bäume geschrieben hat, ist der Überzeugung, wenn mit einem Wald etwas nicht in Ordnung sei, spüre das auch der Mensch und empfinde selbst darin Stress. Klar: Wenn ein einzelner Bahnreisender Hass und Kälte ausstrahlt, so spürt es ja auch das gesamte Abteil. Der böse Alte tat dann nämlich gar nichts weiter, was irgendwie auffällig gewesen wäre, er beschimpfte niemanden, hustete noch nicht einmal, und doch ging von seinem Platz etwas aus, von dem man erst spürte, wie negativ es gewesen war, als er Stunden später endlich den Zug verließ. Ohne eine einzige überflüssige Bewegung stöpselte er sein Mobiltelefon ein. Machte von seinem guten Fahrgastrecht Gebrauch, indem er die Fahrkartenkontrolleurin, der er sein Ticket in dem von der Bahn dafür vorgesehenen Kuvert reichte, fragte, um wie viel Uhr mit der Ankunft des (überpünktlichen) Zuges an einem bestimmten Bahnhof zu rechnen sei. Trank aus einer mitgebrachten Flasche. Ging einmal aufs Klo. Schlief. Auf dem Gangplatz, den er sich durch seine Lüge gesichert hatte, reiste sein schwarzer Koffer, an dem außen ein schwarzes Käppi befestigt war, das er vermutlich aufsetzen würde, falls es dort, wo er ausstieg, nach Regen roch.

Meine Augen waren von wochenlanger Twitter-Lektüre über Brett Kavanaugh gerötet, meine allgemeine Zuversicht durch fast zwei Jahre Trump zerrüttet, und doch musste ich daran denken, wie in Amerika ganze voll besetzte Busse nach Feierabend, wenn es regnet und kalt ist und jeder nur noch nach Hause will, dem Fahrer zurufen, halt, er solle warten, er solle noch mal die Türen aufmachen, da hinten renne noch jemand und wolle mit. Ich sah auf den Koffer mit dem Käppi neben dem Alten auf seinem Fensterplatz und hasste sie heißer und verzweifelter als jemals zuvor, die deutsche Hasskultur.

© SZ vom 13.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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