Historie:Ein Traum von Freiheit

Lesezeit: 7 min

Als Demokratie in einem Sozialismus mit menschlichem Antlitz zum Greifen nah war: Vor fünfzig Jahren beendeten sowjetische Panzer den Prager Frühling.

Von Helmut Zeller

Etwas war geschehen. Hoch über der Stadt, auf dem Laurenziberg, blühte wie immer zu dieser Jahreszeit der Flieder. Unten aber, in den grauen Straßen der Prager Altstadt, lächelten die früher so verschlossenen Menschen einander fröhlich an. Abends versammelten sich Tausende auf dem Wenzelsplatz. Überall erklang lautes Lachen, jeder spürte es: Die Angst war weg. Es war Frühling 1968.

Der damals 36-jährige Prager Schriftsteller Ivan Klíma träumte fast jede Nacht den gleichen Traum, in dem er ein nie gekanntes Gefühl von Freiheit empfand. Die Erinnerung an den Terror steckte den meisten in den Knochen. Jeden Tag vor Stalins Tod 1953 waren Menschen im berüchtigten Prager Gefängnis Pankrác verschwunden, der Nachbar, der Kollege, jeder konnte ein Spitzel sein. 1952 wurden der Generalsekretär der Kommunistischen Partei (KSČ), Rudolf Slánský, und weitere 13 führende Genossen einer "bourgeoisen, zionistischen Verschwörung" schuldig gesprochen. Die "Säuberung" ging einher mit einer antisemitischen Kampagne - elf der Angeklagten waren Juden. Auch der slowakische Jude Eduard Goldstücker, 1950/51 erster tschechoslowakischer Botschafter in Israel, fand sich nach seiner Rückkehr jäh in einem kafkaesken Prozess wieder. Er wurde zu lebenslanger Haft verurteilt, 1955, nach vier Jahren Zwangsarbeit in Uranbergwerken, aber rehabilitiert.

"Ach, wie einsam sitzt doch jetzt die Stadt ... Sie weint unaufhörlich bei Nacht."

Ivan Klíma ist heute ein alter Herr. Er weiß genau, wo Kafka steckt. Mit einem Griff zieht der 86-Jährige das Buch aus den wandhohen Regalen seines Arbeitszimmers heraus: "Der Prozess". Die Ausgabe von 1958, sagt Klima, sei der erste veröffentlichte Roman des früher geächteten Prager Schriftstellers in der Tschechoslowakei gewesen: "Dass Kafka erscheinen konnte, war für die Freiheit sehr wichtig." Stalin war tot, und im Ostblock setzte ein kurzes "Tauwetter" ein, gerade in der Tschechoslowakei blieb die Sehnsucht nach Freiheit noch in den Sechzigerjahren lebendig. Die Jugend las Milan Kundera, Bohumil Hrabal, Franz Kafka und Allen Ginsberg. Die tschechische Version des Protestsongs von Bob Dylan "The Times They Are A-Changin'" wurde zur Hymne des neuen Lebensgefühls. Literatur und Theater gewannen internationales Ansehen. Ján Kadár und Elmar Klos drehten den Oscar-prämierten Film "Der Laden auf dem Korso" über die bis dahin verschwiegene Kollaboration in der Slowakei mit Hitler-Deutschland. Man diskutierte offen über den Antisemitismus und die Verbrechen der späten Stalinära.

Milan Kundera sah in diesem Aufbruch einen großen Moment der europäischen Kulturgeschichte. Im Mai 1963 organisierte der Germanist Goldstücker auf Schloss Liblice die erste Kafka-Konferenz. Die Tagung setzte einen starken Impuls für eine Auseinandersetzung mit der bürokratischen Willkür und Entfremdung des Menschen im Sozialismus, die es der Parteiideologie zufolge doch nur in den kapitalistischen Ländern jenseits des Eisernen Vorhangs gab.

"Jedes große literarische Werk verweigert sich totalitären Ideologien", sagt Klíma. Das hatten auch die Parteibonzen um den Generalsekretär der KSČ, Antonín Novotný, verstanden. Argwöhnisch beobachteten sie die Literární noviny, ein Sammelbecken kritischer Schriftsteller und Journalisten mit Ivan Klíma als stellvertretendem Chefredakteur. In einem Land mit 15 Millionen Einwohnern erreichte die Zeitung des Schriftstellerverbandes jede Woche eine Million Leser.

Vier Jahre nach der Kafka-Konferenz brach die Revolte der Literaten los. An einem heißen Sommertag Ende Juni 1967 begann der 4. Schriftstellerkongress. Die jungen Autoren der Literární noviny - Ludvík Vaculík, Václav Havel, Karel Kosík, Pavel Kohout, Milan Kundera - zogen eine vernichtende Bilanz kommunistischer Politik seit 1948. Parteiideologe Jiří Hendrych hatte noch geglaubt, er könne die Aufmüpfigen zur Räson bringen. Ivan Klíma setzte aber noch eins drauf und forderte die Abschaffung der Zensur. Als dann Pavel Kohout noch einen offenen Brief des russischen Dissidenten Alexander Solschenizyn verlas, stürmte Hendrych laut schimpfend aus dem Saal. Literární noviny wurde eingestellt. Die KSČ, der Klíma 14 Jahre lang angehört hatte, warf ihn hinaus.

Der Aufstand der Schriftsteller aber war der Auftakt zum Prager Frühling. Die Presse durfte die kritischen Reden nicht veröffentlichen. Dennoch erreichten sie, massenhaft vervielfältigt, Hunderttausende. "Angst", sagt Klíma, "habe ich nie gehabt." Dieses Gefühl hatte er schon als Kind restlos aufgebraucht - in den dreieinhalb Jahren im Konzentrationslager Theresienstadt während der deutschen Besatzung.

Die Menschen hatten 1968 die Mangelwirtschaft und die langen Warteschlangen vor den Geschäften satt. Auch in der Partei wurde die staatliche Planwirtschaft infrage gestellt. Es fehlten 200 000 Wohnungen. Ein tschechoslowakischer Arbeiter musste für einen Fernsehapparat 470 Stunden arbeiten, sein Kollege in Westdeutschland nur 133 Stunden, kritisierte der Wirtschaftsreformer Ota Šik. Der Vordenker eines "dritten Weges" zwischen Sozialismus und Kapitalismus war Mitglied im Zentralkomitee der KSČ. Er hatte während des Krieges im kommunistischen Widerstand gekämpft und Mauthausen überlebt.

1 / 3
(Foto: Libor Hajsky/dpa)

Die Ohnmacht des Protests: 1968 werfen in Prag Männer Steine auf sowjetische Panzer.

2 / 3
(Foto: dpa)

Eine wütende Menschenmenge demonstriert auf dem Wenzelsplatz in Prag.

3 / 3
(Foto: imago/CTK Photo)

Kurz vor der Invasion haben Eltern "Dubček ist nicht am Ende" auf ihren Kinderwagen geschrieben.

Anfang Januar 1968 zwangen die Reformer in der Partei den Altstalinisten Antonín Novotný zum Rückzug. Neuer Parteichef wurde der 46-jährige charismatische Slowake Alexander Dubček. Die Menschen liebten ihn. Noch nie war ihnen ein Spitzenfunktionär der KSČ so offen begegnet. Die Parteireformer schöpften Zuversicht. "Die Intellektuellen und das Volk gingen, was in der Geschichte nur selten vorkommt, den Weg gemeinsam", sagt Ivan Klíma heute.

Anfang 1968 wurde die Zensur abgeschafft. Kremlchef Leonid Breschnew soll laut Augenzeugen nur vor sich hingestarrt haben, als ihm "Sascha", wie er Dubček familiär nannte, treuherzig versicherte, dass das doch nichts Schlimmes sei. Gelegentlich aufblitzende Angst vor den Freunden im Kreml kämpften die Tschechen mit ihrem typischen Humor nieder. Die Speisekarte einer Prager Kneipe bot an: "Leber von János Kádár"; "Rippen von Leonid Breschnew"; "Gehirn von Walter Ulbricht"; "Zunge von Władysław Gomułka" und "Eier von Todor Schiwkow", dem bulgarischen Staatschef.

Die Menschen stellten sich den Panzern in den Weg. Doch es half alles nichts

Inzwischen führte Goldstücker die verbotene Zeitschrift unter dem Namen Literární listy weiter. Er holte die ursprüngliche Redaktion zurück. "Sie wurde immer weniger literarisch und immer politischer", sagt Klima. Ende Juni 1968 veröffentlichten Literární listy und drei andere Zeitungen das "Manifest der 2000 Worte" zugunsten weiterer Reformen. Es erfuhr überwältigende Zustimmung.

Die sowjetische Führung war alarmiert, sie fürchtete einen allgemeinen Aufruhr im Ostblock und sprach von einer "Konterrevolution". Das Moskauer Politbüro unternahm einen letzten Versuch, die Reformbewegung zu stoppen. Vom 29. Juli an verhandelte es vier Tage lang mit Dubček und seinen Leuten im Bahnhofsgebäude des verschlafenen slowakischen Grenzstädtchens Čierna nad Tisou. Die Gespräche verliefen in einer aggressiven Stimmung.

Der russische Ministerpräsident Alexej Kossygin weigerte sich dabei, mit dem "galizischen Juden" František Kriegel zu sprechen. Kriegel, Mitglied des tschechoslowakischen Parteipräsidiums, hatte im Spanischen Bürgerkrieg gegen Francos Faschisten gekämpft. Das Treffen blieb ergebnislos. Am 21. August 1968 überschritten fünf "Bruderarmeen" des Warschauer Pakts die Grenzen der Tschechoslowakei. Über Nacht besetzten sie Flughäfen, Rundfunkgebäude, Bahnhöfe, Ämter, Post - alle strategischen Zentren in Prag, Bratislava und anderen Städten des Landes.

Heute betrachtet eine elegant gekleidete alte Dame im Prager Kunstgewerbemuseum die Werke von Josef Koudelka. Sie weint. Tränen fließen über ihr Gesicht. Koudelkas Fotografien erzählen von der Niederschlagung des Prager Frühlings, vom Ende jener kurzen Zeit der Hoffnung und der Leichtigkeit des Seins, wie Kunderas berühmtester Roman heißt. Koudelkas Fotos dokumentieren die Fassungslosigkeit in den Gesichtern der Menschen, die sich mit bloßen Händen den Panzern in den Weg stellen und die Soldaten auffordern, nach Hause zu gehen. Bis Dezember 1968 starben 137 Tschechen und Slowaken. Die Fassade des Nationalmuseums am Wenzelsplatz wurde von Geschossen durchsiebt.

Der tschechische Landesrabbiner und Schriftsteller Karol Sidon schrieb damals für Literární listy. Sein Freund schlich nachts in die Prager Pathologie, um die Toten zu fotografieren - als Beweis für die Nachwelt. "Mir erschienen plötzlich die ersten Worte aus Jeremias Klagelied über die Zerstörung des Tempels in Jerusalem", sagt Sidon. "Ach, wie einsam sitzt doch jetzt die Stadt ... Sie weint unaufhörlich bei Nacht. Alle ihre Freunde sind ihr zu Feinden geworden." Später schließt er sich der Bürgerrechtsbewegung Charta 77 an.

Sieben Tage widerstanden Slowaken und Tschechen der Invasion. Etwa eine halbe Million Soldaten der Sowjetunion, Polens, Bulgariens und Ungarns besetzten das Land. DDR-Truppen nahmen auf Weisung Moskaus nicht direkt an der Invasion teil. Die Tschechen und Slowaken sollten nicht auch noch an die Naziokkupation erinnert werden.

Tausende Menschen gingen auf die Straße. Koudelka fotografierte einen alten Mann, der mit Aktentasche in der Linken und einem Pflasterstein in der erhobenen rechten Hand auf einen Panzer losgeht. Ortstafeln und Verkehrsschilder wurden verdreht oder übermalt, damit die Truppen die Orientierung verloren. Eisenbahner lenkten Züge der Sowjetarmee auf Abstellgleise. Rundfunkjournalisten sendeten von provisorisch eingerichteten Sendestationen in Privatwohnungen.

"Früher hätten wir nie zu hoffen gewagt, einmal unabhängig zu sein."

Und doch war am Ende alles verloren. Dubček und andere Regierungsmitglieder wurden in Moskau gezwungen, ihrem Reformprogramm für einen demokratischen Sozialismus abzuschwören. František Kriegel widerstand. Er wurde später zum Mitbegründer der Charta 77. Die Staatssicherheit verfolgte ihn bis zu seinem Tod 1979.

Der deutsche Schriftsteller Heinrich Böll, der am Tag vor dem Einmarsch der Invasionstruppen auf Einladung des Schriftstellerverbands in Prag eintraf, maß dem Versuch eines "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" weltgeschichtliche Bedeutung bei. Doch der Prager Frühling blieb im Westen weitgehend unverstanden. Für Herbert Marcuse, eine Ikone der westdeutschen Studentenbewegung, war seine Niederschlagung zwar das "tragischste Ereignis seit dem Zweiten Weltkrieg". Die Studenten, die rebellischen 68er, verurteilten den sowjetischen Einmarsch jedoch eher lau, zu sehr war man eingesponnen in den eigenen Traum vom Sozialismus. Auch die Regierungen des Westens hielten still.

Im September 1968 führte die neue moskauhörige Parteigarde die Zensur wieder ein. Zehntausende flüchteten ins westliche Ausland. Milan Kundera ging nach Frankreich, Pavel Kohout nach Österreich. Eduard Goldstücker wurde zum zweiten Mal in seinem Leben ins Exil getrieben. Eine riesige Säuberungswelle, im Parteijargon "Normalisierung", erfasste das ganze Land. Lethargie und Hoffnungslosigkeit legten sich wieder auf die Menschen. Aus Protest verbrannte sich im Januar 1969 der 20-jährige Student Jan Palach auf dem Wenzelsplatz. Im Februar tat es ihm Jan Zajíc nach. In seinem Abschiedsbrief schrieb der 18-Jährige: "Ich hoffe, ich werde das Leben mit meiner Tat besser machen."

Ivan Klíma war während der Invasion in London gewesen. Er kehrte zurück. "Ich arbeitete viel und versuchte, die Russen nicht zu provozieren." Die Beamten der Staatssicherheit parkten ihren Wagen um die Ecke seines Hauses. Er wurde immer wieder zu Verhören mitgenommen, berichtet er: "Andere wollten ihnen beweisen, dass sie Idioten waren. Ich sagte nur, ich weigere mich zu antworten."

Als im Westen angesehener Autor genoss Klíma aber einen gewissen Schutz. 1970 erhielt er Publikationsverbot. Aber seine Bücher kamen in Westeuropa und in den USA in großen Auflagen heraus. Das verdankte er dem amerikanischen Schriftsteller, seinem Freund Philip Roth, der ihm zum Durchbruch verhalf.

Neue Bücher und Ausstellungen erinnern heute an das Drama von 1968. Aber der Blick auf den Prager Frühling weckt noch immer zwiespältige Gefühle. Die Mehrheit der Tschechen und Slowaken hatte sich doch anschließend wieder rasch mit der restaurierten Macht arrangiert. "Es gab nur vereinzelte Blitze des Widerstands. Die Menschen wollen davon heute aber nichts mehr hören", sagt Ivan Klíma.

Doch die Wunde bleibt. Das nationale Gedächtnis tut sich schwer mit dem Erbe des Prager Frühlings. Auch die Reformkommunisten waren schließlich Kommunisten. Eduard Goldstücker etwa, der 1990 zurückkehrte, wurde an den Rand gedrängt. Der Kafka-Experte musste an seinem Lebensende sogar seine Bibliothek stückweise verkaufen, um zu überleben, er starb im Jahr 2000.

Heute geben in Prag die Rechtspopulisten die Richtung vor, auf dem Hradschin sitzt ein Präsident, der gegen Flüchtlinge hetzt. Ivan Klíma will darüber nicht reden. Er sagt: "Wir haben heute doch ein mehr oder weniger demokratisches System. Früher hätten wir nie zu hoffen gewagt, einmal von Moskau unabhängig zu sein. Das ist im Grunde ein Wunder." Und der Prager Frühling? Ivan Klíma denkt nicht mehr darüber nach, behauptet er. "Heute träume ich von hübschen Frauen", sagt er und lacht.

© SZ vom 21.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: