Hirnforschung:Der vergessene Patient

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100 Jahre nach der Beschreibung des ersten Falls von Alzheimer gilt das Leiden als Volkskrankheit. Der Münchner Psychiater und Neurologe Hans Förstl sieht die Krankheit als Alterserscheinung, die jeden treffen kann.

Tina Baier

Am 4. November 1906 berichtete der Nervenarzt Aloys Alzheimer von der Patientin Auguste Deter, die bereits mit 51 Jahren am "Greisenblödsinn" litt. 100 Jahre nach der Beschreibung dieses ersten Falls von Alzheimer gilt das Leiden als Volkskrankheit. Der Münchner Psychiater und Neurologe Hans Förstl sieht die Krankheit als Alterserscheinung, die jeden treffen kann.

Auguste D., die erste Patientin, bei der Alzheimer diagnostiziert wurde. (Foto: Foto: dpa)

SZ: Auguste Deter konnte sich weder an den Namen ihres Mannes noch an ihren eigenen Familiennamen erinnern, als Aloys Alzheimer mit ihr sprach. Ihre Demenz war offensichtlich. Ist die Diagnose "Alzheimer" immer so eindeutig?

Förstl: So einfach wie bei Auguste D. ist es meistens nicht. Normalerweise hat ein Patient mit Alzheimer erst im Spätstadium Schwierigkeiten, sich an seinen Namen zu erinnern. In einem früheren Stadium vergessen die Patienten kurz zurückliegende Ereignisse, etwa was am Vortag passiert ist.

Das hat auch die für Alzheimer typische Desorientierung zur Folge. Die Diagnose im Frühstadium ist schwierig, denn es gibt neben Alzheimer viele andere Ursachen, die die geistige Leistungsfähigkeit eines Menschen beeinträchtigen können: etwa eine Depression oder die Nachricht, an einer schlimmen Krankheit zu leiden. Der Gedächtnisverlust ist dann meist vorübergehend.

SZ: Bei der Alzheimer-Krankheit wird der Gedächtnisverlust dagegen zunehmend schlimmer. Wie entdeckt man den Unterschied?

Förstl: Um sicher zu sein, reicht ein einfaches Gespräch nicht aus. Vielen Patienten gelingt es ganz gut, die Fassade aufrechtzuerhalten. Deshalb muss der Arzt auf jeden Fall einen Test machen. Dabei muss man allerdings sehr sensibel vorgehen.

Denn das kann sehr demaskierend und kränkend sein. Viele Menschen mit Alzheimer haben wenig Krankheitseinsicht. Im Gespräch machen sie oft einen guten Eindruck. Da ist es wichtig, die Fassade vorsichtig anzukratzen und dahinter zu blicken.

SZ: Wie machen Sie das?

Förstl: Der Patient soll sich zum Beispiel acht Wörter merken. Die Wörter soll er nachsprechen, um sicher zu sein, dass er sie auch gehört hat. Dann kommt die schwierige Phase: Der Patient wird abgelenkt. Dann wird er nochmal nach den Wörtern gefragt. Auch gesunde Menschen können sich in dieser Situation nicht mehr an alle Begriffe erinnern.

Würde ich den Test mit Ihnen machen, hätten Sie vielleicht beim fünften und sechsten Wort Schwierigkeiten. Bei einem Patienten mit Alzheimer ist die Lücke etwas größer.

Aber der Übergang von "noch normal" zu " leicht krankhaft" ist fließend. Da gibt es keinen scharfen Trennungsstrich.

Spezialisten können weitere Untersuchungen machen. Dazu gehören ausführliche neuropsychologische Tests, Nervenwasserpunktion und eine Kernspintomographie.

Je mehr Indizien man sammelt, umso sicherer kann man sein, dass es sich tatsächlich um Alzheimer handelt - mit der entsprechenden Prognose, dass sich der Gedächtnisverlust innerhalb von ein bis zwei Jahren verschlimmern wird.

SZ: Sind nur alte Menschen betroffen?

Förstl: Nein, die jüngsten Patienten waren zwischen 20 und 30 Jahre alt.

SZ: Und das ist dieselbe Krankheit?

Förstl: Das ist ein alter Streit. Aloys Alzheimer hat sich mit diesem Problem sehr schwer getan. Er wusste, dass alle alten Leute Hirnveränderungen haben und dass die meisten von ihnen im hohen Alter den "Greisenblödsinn" entwickeln.

Auguste Deter war deshalb ungewöhnlich, weil sie so früh erkrankt ist. Alzheimer war sich bis zu seinem Tod nicht sicher, ob sie an einer Krankheit litt oder ob sie einfach frühzeitig gealtert war.

Sein Chef, Emil Kraepelin, hat dann 1910 in einem Lehrbuch diese frühzeitige, sogenannte präsenile Demenz als Alzheimersche Krankheit bezeichnet.

In den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts hat man das genauer untersucht und festgestellt, dass der einzige wesentliche Unterschied zwischen präseniler und seniler Demenz das Erkrankungsalter ist.

Daraufhin hat man den Begriff der Alzheimerschen Krankheit erweitert. So wurde auch die Altersdemenz zur Krankheit.

SZ: Ist sie das nicht?

Förstl: Darüber gibt es sehr unterschiedliche Meinungen. Ich persönlich glaube, dass Alzheimer ein beschleunigtes Altern ist. Wenn Menschen alt genug würden, bekämen wahrscheinlich so gut wie alle Alzheimer. Manche haben das Schicksal, dass ihr Gehirn schneller altert als bei anderen. Sie erleben die Krankheit. Andere sterben mit 85 am Herzinfarkt und Alzheimer hätte sich erst zehn Jahre später gemeldet.

SZ: Wie viele junge Menschen sind betroffen?

Förstl: Weniger als drei Prozent erkranken vor dem 65. Lebensjahr. Die Betroffenen stammen oft aus Familien, in denen es erbliche Risikofaktoren für die Alzheimer-Erkrankung gibt.

SZ: Gibt es einen Gentest, mit dem man herausfinden kann, ob eine Veranlagung für Alzheimer besteht?

Förstl: Ja. Aber es ist eine ethisch sehr schwierige Frage, ob man einem Menschen einen solchen Gentest zumutet.

SZ: Weil man nichts gegen den Ausbruch der Krankheit machen kann, auch wenn man weiß, dass eine Veranlagung vorliegt?

Förstl: Ja. Es gibt neben einem Recht auf Wissen auch ein Recht auf Nicht-Wissen. Vielleicht hat der Betroffene Kinder, die auf keinen Fall wissen wollen, ob sie an Alzheimer erkranken werden. Ich glaube aber, dass es in Zukunft ein Vorteil sein wird, frühzeitig zu wissen, ob man erblich belastet ist.

SZ: Was macht Sie so zuversichtlich?

Förstl: Ich denke, dass es in zehn bis zwanzig Jahren Möglichkeiten geben wird, die Krankheit effektiv zu behandeln, zum Beispiel durch eine Alzheimer-Impfung.

SZ: Wie soll das gehen?

Förstl: Dabei wird mit Beta-Amyloid im Gehirn geimpft, dem Grundbaustein der Alzheimer-Plaques, die die Nervenzellen verdrängen. Das heißt, der Körper wird immun gemacht gegen das körpereigene Alzheimer-Eiweiß. Das Problem ist, dass man noch nicht genau weiß, welche Funktionen Beta-Amyloid hat und was passiert, wenn man es ausschaltet. Vor drei Jahren musste eine Impfstudie abgebrochen werden, weil einige Patienten eine Gehirnentzündung bekamen.

SZ: Das klingt nicht gerade ermutigend. Gibt es noch andere Ansätze?

Förstl: Ja. Es gibt zum Beispiel Hinweise, dass cholesterinsenkende Medikamente die Bildung von Beta-Amyloid verhindern. Auch sogenannte Sekretase-Hemmer haben diese Wirkung. Letztere haben aber wahrscheinlich einen hohen Preis: Sie beeinträchtigen vermutlich die Differenzierung von Nervenzellen. Man würde dann zwar nicht dement, könnte aber nicht mehr so viel Neues lernen.

SZ: Momentan wird Alzheimer vor allem mit Antidementiva behandelt, etwa mit Cholinesterase-Hemmern wie Donepezil, Galantamin und Rivastigmin oder mit Memantin. Diesen Medikamenten wird nachgesagt, dass sie starke Nebenwirkungen haben und nicht helfen.

Förstl: Nach meiner Erfahrung sagen die meisten Patienten und auch ihre Angehörigen, dass es ihnen mit diesen Medikamenten besser geht. Einige sagen auch, dass die Mittel nicht helfen.

Die häufigste Nebenwirkung der Cholinesterase-Hemmer ist Übelkeit. Da muss man abwägen, ob das in einem guten Verhältnis zum Nutzen steht. Wenn nicht, muss das Medikament abgesetzt werden. Man muss aber dazu sagen, dass diese Arzneien die Krankheit nicht heilen, sondern ihren Verlauf hinauszögern.

SZ: Was kann man sonst noch tun?

Förstl: Die Gedächtnisleistung verbessert sich manchmal, wenn körperliche Gebrechen, an denen alte Menschen oft zusätzlich leiden, richtig behandelt werden.

Das Gehirn verbraucht bis zu 30 Prozent unserer Energie. Es profitiert davon, wenn beispielsweise Diabetes oder Bluthochdruck angegangen werden, weil dadurch Energieressourcen frei werden.

Doch Menschen mit Alzheimer fallen oft durch alle Raster des Gesundheitssystems und mit ihnen ihre Angehörigen, die dann auch prompt krank werden.

SZ: Woran liegt das?

Förstl: Patienten mit Alzheimer können sich mitunter nicht mehr richtig artikulieren. Dazu kommt oft, dass sie Medikamente selbst nicht mehr zuverlässig einnehmen können. Angehörige, die sich um einen dementen Patienten kümmern, können das Haus meist ebenfalls kaum noch verlassen. Da bleibt keine Zeit, sich um sich selbst zu kümmern.

Den Patienten ins Krankenhaus zu schicken, entlastet die Angehörigen zwar kurzfristig. Doch Menschen mit Alzheimer können sich an die neue Umgebung meistens nicht mehr gewöhnen. Viele sind in dieser Situation vollkommen verängstigt, weil sie nicht verstehen, wo sie sind und warum.

Dazu kommt, dass vertraute Menschen plötzlich fehlen. Sie werden unruhig oder aggressiv und dann bekommen sie Beruhigungstabletten. Sie sind dann zwar ruhig, aber sie werden gedämpft, was die geistige Leistungsfähigkeit weiter verschlechtert. Ich muss aber einräumen, dass es mitunter Situationen gibt, in denen es zum Schutz des Patienten und anderer nicht anders geht.

SZ: Pflegende Angehörige stecken also im Dilemma: Sie haben keine Zeit, sich um sich selbst zu kümmern, dürfen den dementen Patienten aber auch nicht allein lassen.

Förstl: Es ist ein großes Manko in Deutschland, dass für pflegende Angehörige zu wenig getan wird. Es müssten mehr Ressourcen bereitgestellt werden, um sie zu entlasten und zu schulen: ihnen zum Beispiel zu zeigen, wie sie mit bestimmten Situationen besser umgehen können.

Die geburtenstarken Jahrgänge, die jetzt in die Jahre kommen, können sich ohnehin nicht mehr darauf verlassen, dass sie von Jüngeren gepflegt werden. Sie werden sich um sich selbst kümmern müssen. Eine Lösung wäre, dass die noch gesunden alten Menschen sich um die Kranken kümmern.

© SZ vom 3.11.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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