Hells Kitchen (VXIII):Aus den Fugen

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(Foto: N/A)

Unser Kolumnist beobachtet in der selbstgewählten New Yorker Quarantäne, welche Folgen die Ausgangssperre hat. Wenn seine Hamburger Freundin jetzt sogar Sex-Szenen in ihren neuen Roman einbaut, dann passiert wirklich etwas Dramatisches.

Hier sind vier Dinge, die mir in meiner seit drei Wochen dauernden Selbst-Quarantäne in Hell's Kitchen sagen, dass die Welt da draußen aus den Fugen geraten ist. Meine Physiotherapeutin K. rief aus San Diego an und flirtete mit mir. Mein Freund Jerry erzählte, dass er zum ersten Mal in seinem Leben selbst ein Tellergericht gekocht habe (er hat manchmal gegrillt, aber nie gekocht, da war er eisern). Links von meinem Balkon hat im Hudson River ein Krankenhausschiff angelegt, das ungefähr so groß ist wie Wanne-Eickel. Meine Freundin B. aus Hamburg hat gerade für ihren neuen Roman, der im kommenden Jahr erscheinen soll, eine, man muss es wohl so sagen, rassige Sex-Szene geschrieben.

Ein Zeichen bedeutet nichts. Vier Zeichen ergeben ein Bild. Wenn Jerry kocht und B. über Sex schreibt, wenn K. flirtet und im Hudson ein zum Hospital umgebauter Tanker liegt, dann weiß ich, was die Stunde geschlagen hat. Dann weiß ich, dass sich die Welt auf eine Laufbahn begeben hat, in der alte Gewissheiten nichts mehr gelten.

Ich hatte vor Kürzerem ein paar Probleme mit meinem Rücken, und K., die Physiotherapeutin, hat mich geduldig wieder so hingekriegt, dass ich stundenlang durch den Central Park spazieren konnte. Sie stammt aus Kalifornien, und am Telefon erzählte sie nun, dass sie New York wie so viele Menschen verlassen habe und versuche, die Krise in San Diego abzuwettern. Wer nicht in New York bleiben muss, bleibt nicht in New York.

"Wie geht es Ihnen?", fragte ich.

"Ach", sagte sie, "soll ich ehrlich sein?"

"Ich bitte darum", sagte ich.

"Ich vermisse Sie", sagte sie.

Jerry klingelte durch und machte mir erst mal Vorwürfe, weil ich ihn fünf Tage lang nicht angerufen hatte. Er hat etwas Trumpiges, er will dauernd beachtet werden. Nachdem ich gelassen gelogen hatte, dass ich im Grunde an kaum etwas anderes gedacht hätte als an ihn, sagte er, dass er aus schierer Verzweiflung Reis mit Hühnchen zubereitet habe, nur für sich.

B. hat jetzt, wenn ich es recht überblicke, neun Bücher geschrieben, in denen ihre Protagonistin sich mit dem Schmerz der Welt beschäftigt, aber nie schrieb sie eine ausführliche Sex-Szene. Im zehnten Buch ist es so weit, und da es dabei um alles geht, ist es vielleicht das letzte Buch der Serie. Nur so eine Ahnung. Wer weiß?

Ich habe eine leichte Erkältung, und Anfang der Woche hatte ich ein paar Tage lang meinen Geruchssinn verloren. Kein Fieber, kein Husten, es geht mir gut. Vielleicht Corona, vielleicht nicht. Ich weiß es nicht. Es geht mir gut, wie gesagt. Gibt keinen Grund, sich Sorgen zu machen.

Wenn ich an K. denke, an Jerry, an das Schiff und an B., die jetzt rassige Sex-Szenen schreibt, denke ich an die aus den Fugen geratene Welt da draußen als einen wunderbaren Ort.

© SZ vom 04.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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