Hell's Kitchen (CVIII):Reisen

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(Foto: N/A)

21-mal ist unser Kolumnist in seinem Leben umgezogen - und auch wenn es ein wenig ungerecht ist: So wohl wie in Hell's Kitchen hat er sich noch nirgends gefühlt. In der letzten Folge dieser Kolumne lüftet er ein Geheimnis, das 107 Folgen lang gehütet wurde.

Von Christian Zaschke, New York

Kürzlich habe ich ausgerechnet, dass ich in meinem Leben 21 Mal umgezogen bin. An jedem einzelnen Ort hätte ich länger bleiben können, sie waren alle vollkommen okay, aber irgendwann kam immer der Tag, an dem ich meinen Kram packte und weiterzog. Sehr gern habe ich, dies nebenbei, im Londoner Stadtteil Belsize Park gewohnt, wo ich eine Weile ein zugiges Schmuckstück mietete, auf dessen Schlafzimmerfenster sich ein unentfernbarer Vogelscheißfleck befand.

Mein 21. Umzug führte mich nach Hell's Kitchen, und es ist vielleicht ungerecht all den anderen Orten gegenüber, an denen ich aufgewachsen bin, an denen ich mich erstmals verliebte, an denen ich meinen ersten Arbeitsvertrag unterschrieb und dachte, dass mein Leben damit vorbei sei, an denen ich heiratete, an denen man mir eine Plakette mit meinem Namen an die Bar schraubte, weil das Etablissement im Wesentlichen davon lebte, dass ich die Erträge des erwähnten Arbeitsvertrags ebendort in Steaks und Wein investierte, an denen ich einen Krieg gegen Ameisen führte und gewann, an denen ich in einen festen, grauen Himmel blickte und einen Kloben hineinschlagen wollte, an denen ich ein Schiff bestieg, um den Ozean zu queren - ja, es ist wohl ungerecht, das zu sagen, aber nirgends wohnte ich so gern, wie ich in Hell's Kitchen wohne.

Das liegt nicht nur daran, dass ich hier eine bescheidene Bleibe in einem ehemaligen Schwesternwohnheim gefunden habe, in der mein schwarzes Bürotelefon bisweilen klingelt und mein Freund V., der Fremdenführer, dran ist und Ausflüge befiehlt. Es liegt auch daran, dass der grizzlyhafte Tracy Westmoreland bei mir im Haus wohnt, der mir zum Abschied jedes Mal "Hals- und Beinbruch" wünscht. Als er erfuhr, dass es diese Kolumne gibt, drohte er, dass er mir tatsächlich die Beine brechen werde, falls ich jemals verrate, wo eine gewisse Bar, in der er als Türsteher arbeitet, genau liegt. Oder dass hier Menschen leben wie Robert, mein zitternder, früherer Stammfriseur, den ich neulich auf der Straße traf. Er habe sich zur Ruhe gesetzt, sagte er. Er zitterte nicht mehr.

Der Himmel über Hell's Kitchen ist manchmal von einem Blau wie vom Anbeginn der Zeit, und an ausgesucht wenigen Tagen im Frühling und im Herbst geht die Sonne exakt in einer Linie mit den Straßen unter, was einen fast an die Existenz einer höheren Gewalt glauben lässt.

Bald, in nicht allzu ferner Zeit, wird man wieder reisen können, und dann sollten Sie, verehrte Leserin, geschätzter Leser, ein Schiff oder ein Flugzeug besteigen und mal in Hell's Kitchen vorbeischauen. Essen? Gehen Sie zu Pure Thai, die hausgemachten Nudeln sind der Wahnsinn. Trinken? Nun, es gibt da diese exzellente Schrottbar namens Rudy's. Die genaue Adresse lautet 627 9th Avenue, New York, NY 10036. Hals- und Beinbruch.

© SZ vom 27.02.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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