Geschichte eines Nutztieres:Schwein gehabt

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Der Mensch und das Borstenvieh leben schon seit vielen Jahrtausenden eng zusammen - doch obwohl sich die beiden Spezies sehr ähnlich sind, schlug den Tieren nur selten Liebe entgegen. Über ein kompliziertes Verhältnis.

Von Claudia Fromme

Die Grenzen nach Osten sind dicht, Tschechien und Polen seltsam fern. Corona, klar. Entlang Oder und Neiße, Böhmerwald und Erzgebirge gibt es seit einiger Zeit auch noch Elektrozäune und Gitternetze, kilometerlang. Krisenstäbe sind geplant, Kühllager für die Opfer. Die der anderen Seuche. Während alle von Corona reden, bedroht ein zweites Virus Deutschland: die Afrikanische Schweinepest. Die rückt näher, bis auf zwölf Kilometer ist sie an die deutsch-polnische Grenze gekommen. Unlängst wurde ein infiziertes Wildschwein auf der Höhe von Cottbus gefunden. Wildschweine sind Überträger, knabbert ein krankes Tier an Maiskolben, die im Schweinefutter landen, ist die Seuche da. Die Zäune sollen sie abhalten.

In China mussten in einem Jahr 200 Millionen Schweine wegen der Pest gekeult werden, ein Viertel der weltweiten Schweinepopulation. Wenn in Deutschland die für den Menschen ungefährliche Seuche ausbricht, wäre das eine Katastrophe, keiner importiert Fleisch aus einem Pestland.

Düstere Aussichten. Dass in Zeiten von Corona Menschen außerhalb der Landwirtschaft, Jagd und Veterinärmedizin andere Sorgen haben, ist verständlich. Aber es ist wohl so, dass die auch schon vor Corona von der Krankheit akut bedrohten Tiere vielen vor allem eines waren: wurscht.

Auch wenn das Schwein den überwältigenden Teil seiner Geschichte eng an der Seite des Menschen verbracht hat, so war es selten Liebe, die ihm entgegenschlug. In seinem klugen Bändchen "Schweine" bilanziert Thomas Macho: "Schweine sind uns nah und fern zugleich." Er nennt sie "unheimliche Doppelgänger". Sie sind intelligent, anhänglich, hedonistisch und erstklassige Schwimmer - wie der Mensch. Wir haben zu 92 Prozent identisches Erbgut, ihr Körper ist ein medizinisches Ersatzteillager für uns. Und wenn sie sterben, heißt es, schreien Schweine wie Menschen im Todeskampf. Sie sind uns unheimlich nah. Wie nah, ist bei George Orwell in den letzten Sätzen von "Farm der Tiere" nachzulesen: "Die Tiere draußen blickten von Schwein zu Mensch und von Mensch zu Schwein, und dann wieder von Schwein zu Mensch, doch war es bereits unmöglich zu sagen, wer was war."

Wann begann die Geschichte von Mensch und Schwein unter einem Dach, wann wurde die Wildsau domestiziert? Erste archäologische Funde gab es in der neolithischen Siedlung Çayönü im heutigen Anatolien. Mehr als 9000 Jahre alt waren sie und sie zeigten, dass mit schwindenden Wäldern die Zahl der Schweineknochen in der Siedlung stieg. Die wilden Schweine suchten nach Nahrung, die Menschen nutzten das: Sie fütterten sie und labten sich an ihnen. Über die Jahrhunderte ließ sich an den Schweineüberresten eine veränderte Knochenstruktur beobachten: Ihre Zähne rückten enger zusammen, ihre Körper wurden kleiner, ihre Schnauzen kürzer als die ihrer wilden Verwandten, die damit Boden auf der Suche nach Nahrung aufbrachen.

Sie machten ihren Besitzern Konkurrenz: Sie wollten dieselben Körner fressen

Lange gab es die Annahme, dass Schweine in Ostasien domestiziert wurden und sie unter anderem über den Seeweg (sie dienten Matrosen als lebendiges Nahrungsreservoir) nach Europa gelangten. Genetische Auswertungen widerlegten das. Hausschweine in Europa stammen von europäischen Wildschweinen ab, die sich deutlich von ihren asiatischen Verwandten unterschieden, die kleiner und runder im Körperbau waren und dunkler im Fell. Natürlich passten sich die Hausschweine in Europa ihrer Umgebung an, und so entwickelten sich andere Ausprägungen in Südspanien als in Dänemark, wobei die meisten Schweinerassen noch nicht sonderlich alt sind. Sie entstanden erst in den vergangenen zwei Jahrhunderten. Hausschweine aus Asien gelangten erst im 18. Jahrhundert nach Europa. Sie wurden vor allem in England in Züchtungen eingekreuzt.

Auch wenn der griechische Held Odysseus ein stolzer Schweineherdenbesitzer ist und ihn nach seiner Irrfahrt der treue Sauhirte Eumaios empfängt, taugt das Tier nicht sehr für umherziehende Hirten. Lange Strecken absolviert es mit seinen kurzen Beinen nur schwerlich, zu viel Sonne schlägt ihm auf Herz und Kreislauf und bereitet ihm verbrannte Haut. Als Nahrungslieferant war es gleichwohl schnell willkommen. Das sieht man auch daran, dass im ältesten Kochbuch der römischen Antike namens "De re coquinaria" Schweinefleisch am häufigsten genannt wird.

Im Mittelalter, das bekanntlich länger als ein Jahrtausend währte, vom 5. bis zum Ende des 15. Jahrhunderts, hatte das Schwein in der Ernährung eine sehr unterschiedliche Bedeutung. Erst lieferte es Kost für eine kleine Oberschicht, dann wurde es zunehmend Nahrungsmittel für arme Kleinbauern. Meist hütete einer die Tiere in einer Gemeinschaftsherde. Abends rief der Halter sie mit einem Schweinehorn wieder zu sich. Jedes Tier hatte einen eigenen Ton, und weil Schweine ein feines Gehör haben und überdies sehr intelligent sind, fand jedes Tier seinen Stall auf Zuruf.

Ziegen und Kühe geben zu Lebzeiten Milch, Schafe zusätzlich Wolle. Schweine bieten nur ihr Fleisch (und ihre Haut für Leder) - und das erst nach dem Tod. So konnte es in kargen Zeiten eng für den Menschen werden, wenn er das wenige Korn auch noch an sein allesfressendes Schwein abgeben musste. Das Tier, obwohl die Sau sehr fruchtbar ist und zwei Mal im Jahr ein Dutzend Ferkel wirft, endete dann oft im Feuer. Der Lebenszweck des Schweins war schon immer sein Verzehr, nicht weniger, aber auch nicht mehr.

Im großen Stil startete die Schweinemast mit der Industrialisierung. Es musste Nahrung in rauen Mengen für all die Arbeiter in den Fabriken her, vorher hielt man sich Schweine für den Eigenbedarf. Ende des 19. Jahrhunderts entstanden in Dänemark und den USA die ersten industriellen Mastbetriebe. Die Tiere lebten fortan in festen Ställen, vorher liefen sie oft frei herum, auch in der Stadt. Sowieso war die Stadt lange ein Habitat des Hausschweins, das seit dem Mittelalter als Müllschlucker der Siedlungen diente, bis im späteren 19. Jahrhundert die Städte kanalisiert wurden.

In Frankreich wurde ein Schwein vor Gericht gestellt - es hatte ein Kind getötet

Verwundert schrieb die britische Schriftstellerin Frances Trollope 1832, nachdem sie nach Cincinnati gezogen war, über die seltsame Art der Müllbeseitigung dort, die es im heimischen London lange nicht mehr gab: "In der That verrichten diese (Schweine) fortwährend herkulische Arbeit in allen Teilen der Stadt, und es ist auch nicht eben angenehm, sich von ganzen Herden der Tiere umgeben zu sehen, so ist's doch ein Glück, dass sie so zahlreich und so thätige Straßenfeger sind, da ohne sie die Straßen halb von Abfällen aller Art und in allen Staden der Fäulnis überfüllt sein würden." Cincinnati hatte damals den Beinamen "Porkopolis": Nirgendwo in den USA wurde mehr Schweinefleisch verarbeitet.

Der Mensch war dem Schwein gegenüber immer ambivalent, was sich auch im ausgehenden Mittelalter deutlich zeigt. Sowieso war die Justiz in der Zeit grausam, zudem mussten sich vom 13. Jahrhundert an angeblich auch Tiere verantworten. Vielen wurde beschieden, vom Teufel besessen zu sein. Überproportional oft waren es Schweine, meist welche, die Kinder angegriffen oder getötet hatten. Das ist nachvollziehbar, waren die Hausschweine ihren wilden Verwandten im Verhalten oft noch recht ähnlich. Im umfassenden und reich illustrierten Werk "Das Schwein", das gerade im Haupt-Verlag erschienen ist, berichtet Richard Lutwyche von einem denkwürdigen Prozess in Frankreich, wo die meisten der Tierprozesse stattgefunden haben sollen. 1336 wurde in Falaise in der Normandie eine Sau bezichtigt, ein Kind getötet zu haben. Die Vollstreckung des Urteils war ein Volksfest. Die Sau wurde wie ein Mensch angezogen, grausam ausgepeitscht und am Ende enthauptet.

Da ist sie wieder, die Nähe zum Menschen. In Kunst und Literatur fand sie breiten Eingang, in der Malerei bei Hieronymus Bosch ebenso wie bei Paul Gauguin und Pablo Picasso. In vielen Kirchen sind Schweine verewigt, aber nicht immer als Zeichen der Huldigung wie im englischen Bath, wo die Schweine von König Bladud 800 vor Christus die berühmten Heilquellen entdeckten und ihr Gebieter so von Lepra geheilt wurde. Es war schlichtweg das Tier, das Steinmetze am besten kannten. Löwen und andere exotischen Tiere waren lange nicht sehr geläufig. In "Farm der Tiere" werden Schweine den Menschen gleich, in "Alice im Wunderland" wird aus dem schreienden Baby der Herzogin dagegen ein quiekendes Ferkel. Vom Tier in ihrem Arm überrascht, beschließt Alice: "Wenn du ein Schwein wirst, dann will ich dich nicht behalten." Immerhin befindet sie, dass es ein "gut aussehendes Schweinebaby" ist. Loswerden will sie es trotzdem.

Der Mensch neigte über Jahrhunderte auch dazu, Schweine einzukleiden oder als Intelligenzbestien vorzustellen. König Ludwig XI. soll sich im 15. Jahrhundert an kostümierten Schweinen ergötzt haben, die zu Dudelsackmusik tanzten. Damen der höheren Gesellschaft hielten sich in den Zwanzigerjahren nett angezogene Ferkel als Modeaccessoire (das lebte vor einer Weile mit den Hängebauchschweinen Hollywoods wieder auf), im Zirkus zeigten Schweine im Smoking alberne Nummernrevuen. Berühmt war "Toby, das weise Schwein", das in mehreren Versionen Mitte des 19. Jahrhunderts durch die englischen Dörfer zog und angeblich Gedanken lesen konnte.

Ein anderes cleveres Schwein der jüngeren Geschichte ist Luise. Die Wildsau wurde von Hauptkommissar und Hundestaffelführer Werner Franke in Hildesheim als Drogensuchschwein eingesetzt. Sie machte ihre Sache so gut, dass sie weltweit bekannt wurde und 1987 einen Auftritt im "Tatort" hatte, als sprechende Assistentin von Inge Meysel. Aber wie das so ist, war auch diese Sau den Menschen suspekt. Die niedersächsische Landespolizei fand das Tier unangemessen, ein Schwein sei in der Dienstordnung nicht vorgesehen und unverzüglich zu entfernen. Die Wellen schlugen hoch, am Ende sprach der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht ein Machtwort, und so durfte Luise bis zur Pensionierung ihres Herrchens im Dienst bleiben. Er schrieb später ihre Memoiren.

Der britische Premier Winston Churchill sagte einmal: "Ich mag Schweine. Hunde schauen zu uns auf, Katzen schauen auf uns herab. Schweine begegnen uns auf Augenhöhe." Dieser Umstand ging nicht immer zum Vorteil des Schweins aus.

© SZ vom 18.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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