Familientrio:Mein Kind schaut weg

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Ein Mitschüler haut oft ein anderes Kind. Ihr Sohn mische sich nicht ein, erzählt eine Mutter. Was soll sie ihm sagen?

In der Klasse meines Sohnes, 9, verprügelt ein Mitschüler regelmäßig ein anderes Kind. Die Situation ist allen bekannt, Gespräche mit Eltern, Lehrer und Rektorin gab es bereits. Letztens fragte ich meinen Sohn, ob er oder andere Kinder denn auch mal dazwischengehen würden. Es kam ein verständnisloses "natürlich nicht" - er werde sonst selbst geschlagen. Was soll ich zu ihm sagen? Mirjam H. aus Frankfurt

Kirsten Fuchs ist Schriftstellerin und lebt mit zwei Töchtern, Mann und Hund in Berlin. Sie schreibt vor allem Kurzgeschichten und Romane, aber auch Theaterstücke sowie Kinder- und Jugendbücher. Ihr Buch "Mädchenmeute" erhielt 2016 den Deutschen Jugendliteraturpreis. (Foto: Stefanie Fiebrig)

Kirsten Fuchs:

Das ist jetzt ganz schön spät, um darauf zu reagieren. Beim Gehauenen hat das bestimmt schon Dellen in die Seele gehauen, und alle anderen haben sich schon ganz prima an die Situation gewöhnt: der Hauer ans Hauen, die Wegschauer ans Wegschauen. Die Theorie besagt, dass nur die Wegschauer eine Chance haben, die Situation zu ändern. Wenn viele Kinder sich schützend um das andere Kind stellen, dann müsste der Hauer danach viel mehr Kinder verhauen, denen aber wiederum jedes Mal viele Hinschauer helfen würden. So könnte es gehen! Kindern kann man dazu sagen, dass sie nicht sicher sind, wenn sie wegschauen, weil sie jederzeit auch Opfer werden können. Das einzige, was alle schützt, ist dieses Verhalten zu unterbinden. Dazu muss mit der Klasse allgemein übers Hauen, Mobben und Ausschließen gesprochen werden. Die Kinder lernen gerade das absolut Falsche, wenn in diesem Fall nichts passiert. Bitte handeln Sie umgehend!

Herbert Renz-Polster ist Kinderarzt, Wissenschaftler und Autor von Erziehungsratgebern und des Blogs "Kinder verstehen". Er hat vier erwachsene Kinder und lebt mit Frau und jüngstem Kind in Ravensburg. (Foto: Verlag)

Herbert Renz-Polster:

Wie sich die Zeiten ändern. Ein Junge verprügelt regelmäßig einen Mitschüler. Sich gemeinsam gegen den Prügler zu stellen, kommt den anderen Kindern nicht in den Sinn. Vielleicht weil Kinder heute von klein auf daran gewöhnt sind, dass die Regeln von den Erwachsenen kommen? Und dass die sich dann auch um die Regelverstöße kümmern? Ich weiß, dass die meisten Experten jetzt nach der Konfliktkultur, den Streitschlichtern, Mediatoren und Psychologen fragen werden. Zu recht, denn das gemobbte Kind muss geschützt und das Mobber-Kind verstanden werden. Es muss einen Weg in die Gruppe finden, bei dem es nicht auf Aggression setzen muss. Und trotzdem fällt mir hier vor allem das Lob auf die gemischtaltrige Kindergruppe ein. Wenn da ein Junge regelmäßig seine Wut an einem anderen auslässt, bekommt er es vielleicht mit einem älteren Bruder zu tun. Und ein Lob auf Cliquen fällt mir ein, auf Banden und Freundschaften: Man ist miteinander stärker als allein - auch gegenüber einem Verprügler ist das ein Plus.

Collien Ulmen-Fernandes ist Schauspielerin und Moderatorin. Die Mutter einer Tochter wohnt in Potsdam und hat den Kinderbuch-Bestseller "Lotti und Otto" und den Elternratgeber "Ich bin dann mal Mama" verfasst. (Foto: Anatol Kotte)

Collien Ulmen-Fernandes:

Das ist natürliche eine ultrapragmatische Haltung, dass nämlich schreckliche Dinge existieren, es aber nicht immer die beste Idee ist, sich mit Tränen in den Augen dazwischenzuwerfen. Von außen, von uns beiden betrachtet, ist es schrecklich. Natürlich wünsche ich mir für Ihren Sohn, dass er sich mit heroischer Entschlossenheit in die Schlacht begibt, den Degen mit dem Problemkind kreuzt und den Gepeinigten befreit. Das Gegenteil hätten wir beide vielleicht selbst getan. Allerdings glaube ich, dass es an der Stelle eine gute Idee ist, ihm davon zu erzählen, wie demokratische Gesellschaften einen Tyrannen loswerden: Indem sie ihm - zu vielen, gewaltfrei, laut und deutlich - zu erkennen geben, dass sein Handeln vom Volk nicht unterstützt wird. Wenn sich viele zusammentun und ihm sagen, welch Arschloch er ist, wird sich der Tyrann eventuell bald eine neue Berufsperspektive suchen. Das könnte man zumindest mal versuchen.

© SZ vom 31.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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