Familientrio:Dinner für fünf

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Phil R. aus Hamburg ärgert sich, weil sein Nachbar trotz Kontaktverbot Gäste zum Abendessen einlädt. Er findet das Verhalten unsolidarisch. Soll er ihn deshalb zur Rede stellen? Unsere drei Experten geben Antworten.

Unser Nachbar im Haus gegenüber hat vier Leute zum Essen eingeladen. Wir konnten das von unserer Dachwohnung aus sehen, als wir - wie viele - abends auf den Balkon traten, um für das Pflegepersonal zu klatschen. Uns hat das geärgert. Wir finden es unsolidarisch. Alle isolieren sich, die feiern. Sie haben auch nicht geklatscht. Soll ich sie zur Rede stellen?

Phil R. aus Hamburg

Margit Auer:

Margit Auer ist die Autorin der Kinderbuch-Bestseller-Reihe "Die Schule der magischen Tiere", die inzwischen mehr als acht Millionen Mal gedruckt und in 25 Sprachen übersetzt wurde. Sie hat drei erwachsene Söhne und lebt mitten in Bayern. (Foto: Auer)

Was wir jetzt am allerwenigsten gebrauchen können, sind gegenseitige Schuldzuweisungen und Besserwisserei. Sonst können wir unser soziales Leben, das gerade so bitterlich eingeschränkt ist, auch in Zukunft vergessen. Ihre Schilderung lässt mich regelrecht erschauern: Sie gucken neugierig in die Wohnung anderer Leute, und wenn Sie etwas sehen, was Ihnen nicht gefällt, wollen Sie die Nachbarn zur Rede stellen? Ist das Ihr Ernst? Im Moment hocken wir alle sehr eng aufeinander. Wenn wir jetzt anfangen, uns gegenseitig zu observieren und kritisieren, können wir unsere Welt komplett zusperren (etwas anderes ist es natürlich, wenn gegenüber eine Gewalttat passiert). Natürlich sollen wir Regeln einhalten. Auch ich ärgere mich über Rentnerinnen, die beim Bäcker genau in die Lücke springen, die ich gelassen habe und selbstbewusst ihre Bestellung aufgeben. Trotzdem stelle ich sie nicht zur Rede. Ich weiß nämlich, dass auch ich nicht immer alles richtig mache.

Herbert Renz-Polster:

Herbert Renz-Polster ist Kinderarzt, Wissenschaftler und Autor von Erziehungsratgebern und des Blogs "Kinder verstehen". Er hat vier erwachsene Kinder und lebt mit Frau und jüngstem Kind in Ravensburg. (Foto: Verlag)

Zur Rede stellen würde heißen: zum Reden zwingen. Nur: Was erwarten Sie, was da aus den Mündern der "Gestellten" wohl kommen wird? Ich vermute: Rechtfertigungen, Gegenangriffe und Begründungen, denen Sie nur schwer etwas entgegensetzten können. Etwa Argumente, wie sie derzeit in bestimmten Kreisen Konjunktur haben: Die Epidemie sei ein Fake, alles nur Panikmache und ein Trick von "denen da oben", um ihre Macht auszubauen. Vielleicht führt es weiter, Ihre Nachbarn statt zum Reden eher zum Nachdenken zu bringen oder zumindest zur Kenntnisnahme Ihrer Position. Schreiben Sie ihnen einen Brief mit Ihren Gedanken. Sachlich, aber gerne auch persönlich, welche Gefühle dieses Verhalten bei Ihnen auslöst, und warum Sie es kritisieren. Und diesen Brief legen Sie Ihren Nachbarn in den Briefkasten. Falls Sie glauben, Sie könnten ins Gespräch kommen, schreiben Sie einen Absender dazu. Wenn nicht, lassen Sie die Zeile frei.

Collien Ulmen-Fernandes:

Collien Ulmen-Fernandes ist Schauspielerin und Moderatorin. Die Mutter einer Tochter wohnt in Potsdam und hat den Kinderbuch-Bestseller "Lotti und Otto" und den Elternratgeber "Ich bin dann mal Mama" verfasst. (Foto: Anatol Kotte)

Dass Ihre Nachbarn nicht geklatscht haben, ist ihr unverrückbares Recht und hat vielleicht nichts mit Undankbarkeit zu tun, sondern möglicherweise mit der Überzeugung, das kollektive Klatschen bringe nichts (weiß man nicht), oder ist vielleicht eine Selbstvergewisserung des eigenen Gutseins (kann sein), vielleicht auch ein Klatschen, mit dem man über die eigene Untätigkeit hinwegklatscht. (Gerade in diesen Zeiten kann man Geld etwa an die WHO, die Flüchtlingshilfe in Moria oder an Ärzte ohne Grenzen spenden, Masken nähen und an Obdachlose verteilen, Aufklärung vorantreiben - also Dinge tun, die einen nachweisbaren Effekt haben. Machen viele nicht.) Das Klatschen ist eine schöne Geste, keine Frage, aber es gibt effektivere Mittel. Kommen wir zu Ihrer zweiten Frage. Ich weiß nicht, in welcher Verbindung der Mann zu den Gästen stand. Wenn es sich nicht um seine "Kernfamilie" gehandelt hat und die Leute nicht zu seinem "Hausstand" gehören, dann war es ordnungswidrig. Was ich aber auch nicht weiß: ob der Mann überhaupt eine Kernfamilie hat oder ob es sich um vier Menschen handelt, die allein leben und weder Kernfamilie noch Mitbewohner haben. In Berlin gibt es 1,2 Millionen Singlehaushalte. Wenn von denen ein Drittel keine Kernfamilie in der Nähe hat, sind das 400 000 ziemlich einsame Menschen. Die gehören definitiv zur Corona-Depressions-Risikogruppe. All das könnte man den Nachbarn freundlich fragen. Ansonsten gilt auch für ihn, für Sie, für mich, für all unsere Freunde und Freundesfreunde: #StayTheFuckHome.

© SZ vom 18.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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