Ich mache mir Sorgen um meinen Sohn, 17. Er hat kaum Kontakt zu Gleichaltrigen. Zwar hat er verschiedene Aktivitäten versucht, doch nichts war von Dauer. Die Corona-Zeit findet er großartig, mit dem Home-Schooling kommt er gut zurecht, aber er macht keinerlei Anstalten, sich zu verabreden. Eine Mischung aus Schüchternheit und Desinteresse, glaube ich. Soll ich etwas anleiern, um ihm zu helfen? Oder "mache" ich ihn damit krank?"
Johanna S. aus Kassel
Margit Auer:
Willkommen im Club! Ich habe einen 17-Jährigen zu Hause, der gerade in seinem Zimmer in der Hängematte chillt. Homeschooling? Macht er abends um 23 Uhr. "Weil da der Server nicht überlastet ist." Er scheint die Ausnahmesituation sehr zu genießen. Als ich ihm Ihre Frage vorgelesen habe, verdrehte er die Augen: "Warum meinen die Erwachsenen immer, jeder Mensch müsse extrovertiert sein?" Okay, ganz so einfach ist es dann aber doch nicht. Nein, man muss nicht immer extrovertiert sein. Aber Kontakt zur Außenwelt ist überlebenswichtig. Abschotten macht krank. Mein Trick in solchen Fällen: Ich lade Freunde ein, die die ganze Familie mag. Dann kriechen auch maulfaule Teenager aus ihren Höhlen. Manchmal vertrauen sie diesen Freunden Dinge an, die sie Eltern nie erzählen würden. Und die Freunde? Natürlich tratschen sie nichts weiter. Sie geben höchstens mal einen klitzekleinen Hinweis ...
Herbert Renz-Polster:
Mir fällt als erstes das Wort Desinteresse ins Auge. Ein negativer, oft als Schuldspruch formulierter Begriff: mein Kind sperrt sich. Aber muss fehlendes Interesse an bestimmten Dingen schlecht sein? Die sozial "strahlenden", extrovertierten Kinder mögen in unserer Gesellschaft mehr Anklang finden. Aber heißt das, dass die introvertierten Kinder deshalb Problemfälle sind, denen man ihr Verhalten austreiben muss? Vielleicht sagt Ihr Kind mit seinem "Desinteresse" ja nur: Ich bin noch nicht so weit? Tatsächlich legen Sie Ihrem Sohn ja weitere Beschreibungen bei. Darunter eine, über die andere Eltern jubeln würden: Er kommt gut mit sich und den Herausforderungen des Alltags klar. Sie schreiben auch: Er ist schüchtern. Von diesen Kindern ist bekannt, dass sie nicht weniger soziale Menschen sind als andere - nur dass der Weg zu den anderen Menschen für sie vielleicht länger oder beschwerlicher ist. Aber wie die anderen Kinder auch, müssen sie ihn alleine gehen, aus eigener Motivation heraus. Der Rückenwind der Eltern tut dabei allen gut: Du bist okay, du wirst das schaffen. Und wenn dir etwas fehlt oder dich bekümmert, lass es uns wissen.
Collien Ulmen-Fernandes:
Es ist gut, dass Sie das Sozial- und damit das Seelenleben ihres Kindes im Blick haben. Ob Sie sich allerdings aktiv einmischen sollten? Schwierigere Frage, nicht zuletzt, da ihr Sohn ja bald volljährig ist. Es gibt keine Regeln, wie viele Sozialkontakte richtig sind. Viel wichtiger ist: Ist ihr Sohn zufrieden mit seiner Situation, die Sie als problematisch empfinden? Es gibt so viele unterschiedliche Charaktere wie es Menschen gibt. Gerade Kinder und Jugendliche durchlaufen Phasen. Oft sind sie in der Schule noch Einzelgänger, einfach, weil der Zufall ihnen keine passenden Gefährten in die Klasse gespült hat. Später dann, wenn sie sich, gemäß ihrer Interessen für ein Studium oder eine Ausbildung entscheiden, finden sie plötzlich Gleichgesinnte und blühen auf. Haben Sie schon mal von den "Hikikomori" in Japan gehört? Das sind Jugendliche, die jahrelang ihr Zimmer nicht mehr verlassen. So etwas ist natürlich ein echtes Problem, ich gehe aber davon aus, dass das bei Ihrem Sohn nicht der Fall ist. Mein Rat: Suchen Sie das offene Gespräch, aber drängen Sie ihn nicht in Situationen, nach denen er sich nicht sehnt.