Familie und Partnerschaft:Trau dich was

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Starke Heldinnen kommen in Kinderbüchern nicht so häufig vor. Die "Rebel Girls"-Bände wollen das ändern - und setzen einen Trend.

Von Anne Goebel

Eine klassische Kinderliteratur-Heldin aus den Siebzigerjahren: Einsames Stadtkind, die Eltern leben getrennt, womöglich trinkt die Mutter auch noch. Keine heile, sondern eine beschädigte Welt, in der die Tochter sich irgendwie zurechtfinden muss. Nie mehr läppische Nesthäkchen-Fabeln, das war das Gebot der Zeit.

Dagegen die typische Figur aus einem der erfolgreichsten Kinder- und Jugendbücher des vergangenen Jahres: Ein Mädchen, dessen Leben schon mit einer Beschädigung beginnt, es kommt taub auf die Welt. An seinen hochfliegenden Plänen aber ändert das nichts. Die Heldin setzt sich durch und wird Motocrossfahrerin.

Unter den vielen Ermutigungsbüchern für junge Leser, die gerade auf den Markt kommen, hat eines besonders viel Aufsehen erregt: "Good Night Stories For Rebel Girls", aus dem die wahre Geschichte der Motorradfahrerin Ashley Fiolek stammt. Der Band, der auch in der deutschen Ausgabe mit dem eingängigen englischen Titel erschien, war 2017 ein Überraschungs-Bestseller im renommierten Hanser Verlag. Im November kommt der zweite Teil heraus. Es gibt ein passendes Malbuch, ein Postkarten-Set ist ebenfalls geplant, und die Autorinnen sind aus den USA zur Frankfurter Buchmesse angereist. Wieder versammelt der Band Biografien von Mädchen und Frauen, die ihre Lebenswelt nicht als gegeben annehmen, sondern umkrempeln, und sei es nur im eigenen kleinen Bereich.

"Die Botschaft ist: Mädchen können alles werden, was sie wollen. Sie haben das Recht, Dinge auszuprobieren, ehrgeizig in ihren Zielen zu sein", sagen Elena Favilli und Francesca Cavallo. Die Italienerinnen leben seit mehreren Jahren in den USA und haben bei ihren Jobs im Verlagswesen festgestellt, wie hartnäckig sich Geschlechter-Stereotype gerade in Kinderbüchern halten. Es gibt immer noch zu wenige starke Heldinnen, finden sie. So entstand die Idee für den ersten "Rebel Girls"-Band, den sie über die Crowdfunding-Plattform Kickstarter finanzierten - in Rekordzeit. Das Buch über außergewöhnliche Frauen von Elizabeth I. über eine furchtlose Piratin namens Jacquotte Delahaye bis Serena Williams ist in der Geschichte von Kickstarter das am stärksten geförderte Kinderbuchprojekt.

Der Mangel an ikonischen Mädchenfiguren, die schwer in die Jahre gekommene Pippi Langstrumpf ausgenommen, ist ein Grund für den weltweiten Erfolg. Der zweite: Das Thema trifft den Nerv der Zeit. Vor allem der englischsprachige Raum wird schier überschwemmt mit Titeln, die Kinder dazu inspirieren sollen, die Gesellschaft zu verbessern. Bilderbücher wie "Juliana's Bananas. Where do your Bananas come from?" oder "A is for Activist" über fairen Handel oder sozialen Protest wenden sich sogar an die Allerjüngsten. Angesichts der "Me Too"-Debatte ist die Figur der selbstbewussten Heldin besonders gefragt.

Nicht jedem gefällt das "Du kannst die Welt verändern"-Pathos. Schließlich werden die wenigsten blinden Kinder ihre Beeinträchtigung als Steilvorlage für eine ganz besondere Karriere nutzen können. Doch die Bücher wollen durch die Schilderung ungewöhnlicher Schicksale dazu anspornen, das Unwahrscheinliche zu wagen. Mit diesem engagierten Ansatz greifen sie durchaus Traditionen der Siebzigerjahre auf - die pädagogisch manchmal überbemühten Problem-Plots waren Vorreiter des aktuellen Trends. Nur kommen die Geschichten heute weniger schwer daher, sind zugänglicher. Kinder sollen durch die Lektüre nicht betreten zurückbleiben, sondern erleben, dass sich Mut und Veränderung lohnen. Die Bände von Favilli und Cavallo sind typische Beispiele dieser neuen Jugendliteratur, die Schwieriges nicht ausspart, aber unterhaltend sein darf.

Die Kurzform als Gutenachtgeschichten gibt schon vor, dass die Biografien von Hatschepsut bis Michelle Obama nur skizziert werden. Das heißt: Nicht zu viele, dafür spannende Details (Wieso durfte eine Piratentochter nicht Piratin werden? Wie schaffte es Steffi Graf, jünger als jede andere auf dem Tennisplatz zu stehen?) Die Beschränkungen, denen Mädchen in allen Ländern der Welt, in jeder Epoche ausgesetzt waren und sind, kommen unaufdringlich zur Sprache. Kein penetranter Merke-auf-Zeigefinger. Die Botschaft ist: Geh deinen eigenen Weg. Das Kapitel über Manal Al-Sharif, die saudi-arabische Aktivistin gegen das Frauenfahrverbot, endet mit einem kämpferischen Zitat: "Fragt nicht, wann das Verbot aufgehoben wird. Geht raus und fahrt einfach los."

Die Aktivistin Manal Al-Sharif. Illustration: Francesca Cavallo (Foto: N/A)

Den Autorinnen gab der Weg des "Indie Publishing" die Möglichkeit, die Aussichten ihres Projekts vorab auszuloten. Die Zahlen gaben ihnen dann recht. Mehr als drei Millionen verkaufte Exemplare weltweit, 70 000 von Band eins in Deutschland. Die Auswahl der Protagonistinnen in Teil zwei basiert auf Leservorschlägen, eine hübsche Strategie, um den Verkauf von vornherein anzuschieben. Soviel Erfolg lockt Nachahmer, Titel wie "Rebel Dogs" sind in Vorbereitung.

Das italienische Duo hat die Bestseller ohne großes Haus im Rücken hingelegt - und äußert Kritik an der Behäbigkeit etablierter Kinderbuchverlage. "Es gibt massenhaft Angebote für spannende Projekte, die sich nicht mal jemand näher ansieht", sagt Favilli. Daher hätten es ungewöhnliche Bücher schwer, die nicht den gängigen Erzählmustern und Rollenverteilungen folgen. Wer sage denn, dass Mädchen zur Verwirklichung ihrer Träume immer noch einen starken Jungen an ihrer Seite brauchen, eine Fee oder ein kameradschaftliches Tier? Selber machen und nicht abwarten, laute die Botschaft der "Rebel Girls".

Und natürlich haben Favilli und Cavallo auch schöne Geschichten darüber auf Lager, was ihr Buch bewirkt hat. Ein Mädchen aus Sri Lanka, mit der Familie ausgewandert nach Australien, aß kein Schokoladeneis mehr, weil sie es für den Grund ihrer "anderen" Hautfarbe hielt. Dann las sie die Geschichte des dunkelhäutigen Models Alek Wek. Und - nein, sie beschloss nicht, ebenfalls berühmt zu werden. Viel einfacher. Sie aß wieder Schokoeis.

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© SZ vom 20.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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