Der neue Feminismus (3): Die sexuell selbstbewusste Frau:"Eine wichtige Provokation"

Lesezeit: 4 min

Charlotte Roche ist nicht allein, sagt Sexualforscherin Ulrike Brandenburg. Die Rolle der Frau ist im Wandel - und der Mann darf sich auch darüber freuen.

Mirja Kuckuk

sueddeutsche.de: Die Frauen Charlotte Roche ("Feuchtgebiete"), Mia Ming ("Schlechter Sex") und Sängerin Lady Bitch Ray machen Sex zu ihrem Thema - und zwar möglichst provokant. Woher kommt dieses sexuelle Selbstbewusstein?

Der traditionelle Weg: Es dem Mann verkaufen, als wäre es sein Verlangen. (Foto: Foto: iStockphotos)

Dr. Ulrike Brandenburg: Es hat ein massiver Rollenwandel stattgefunden. In den sechziger Jahren ist im Zuge der Emanzipation und sexuellen Revolution zwar viel passiert, aber eher im Sinne einer Parallelisierung. Das heißt, die Frauen haben sich dieselben Rechte wie die Männer erkämpft, es ging um einen politischen Wandel. Heute leben wir im Zeitalter der postliberalen Beziehungsstrukturen. Vor allem junge Frauen streben beim Sex aus der Defensivposition verstärkt in die Offensivposition. Diesen Standpunkt scheint auch Charlotte Roche zu vertreten.

sueddeutsche.de: Der Achtundsechziger-Generation ging es neben der Politik aber auch um sexuelle Befreiung. Was wollen die Frauen heute anders machen?

Brandenburg: Die Sexualforschung beobachtet heute eine selbstbewusste junge Frau, die nicht mehr das Problem hat, "nein" zu sagen - sondern eher bewusst "ja" zu sagen. Die Vorgängergeneration erkämpfte sich das "Nein" zum Sex, das heißt das Nein zu dem, was sie nicht wollen. Danach kam eine Zeit, in der die Beratungsstellen voll waren von lustlosen Paaren. Es stellte sich die Frage, wie kommen wir aus dem Dilemma wieder heraus? Und das ist das Erfreuliche an dem neuen Rollenverständnis: Das "Ja" der Frau kommt jetzt aus einer Offensivposition heraus. Sexualhistorisch betrachtet war diese bislang dem Mann vorbehalten.

sueddeutsche.de: Findet dieser Bewusstseinswandel wirklich auch bei der "normalen", nicht in der Öffentlichkeit stehenden Frau statt? Oder ist das Interesse an Roche & Co. purer Voyeurismus?

Brandenburg: Es ist die Lust an der Provokation, das spürt man. Und natürlich ist da auch ein gehöriger Schuss Voyeurismus und Exhibitionismus dabei. Aber es führt zu keinem Schaden. Das Buch von Charlotte Roche zum Beispiel hat heute eine andere Bedeutung, als es vor 40 Jahren gehabt hätte. Damals wäre das Buch auf dem Index gelandet. Heute ist bei dem Thema bereits viel mehr Spiel möglich. Deshalb sollte man auch nicht mit dem rein bewertenden, altmoralischen Blick an das Phänomen herangehen. Damit würde man den jungen Frauen und ihrem Anliegen nicht gerecht werden.

sueddeutsche.de: Es wäre also überholt, wenn man die teils vulgäre Sprache kritisiert?

Brandenburg: Ich würde nicht sagen "überholt". Aber es wäre schade, denn auf diese Weise würde man die Fülle an Neuem nicht beachten. Ich finde es mutig, zu provozieren und spielerisch mit derartigen Schamlosigkeiten umzugehen. Das hat etwas Schockierendes, Irritierendes. Roches Buch ist ja nicht schön. Es ist für unser gewohntes Rollenverständnis durchaus eine Provokation, dass eine junge attraktive Frau sich plötzlich in schamlosen, schmutzigen "Feuchtgebieten" tummelt.

sueddeutsche.de: Gehört es denn dazu, "ficken" und "Möse" sagen zu müssen, um sexuell befreit zu sein?

Brandenburg: Nein, überhaupt nicht. Man kann aus dem Fall Roche keinen Stereotypen machen und sagen: So müssen wir Frauen das jetzt nachmachen, dies ist jetzt der beste Weg in die Befreiung. Aber ich finde es trotzdem angenehm, dass ich mich heute nicht gleich wieder entrüsten muss, dass sie so auftritt. Ich finde es wundervoll, dass eine gewisse moralisierende Sicht einfach mal vom Tisch gefegt wird. Wenn Charlotte Roche "ficken" und "Möse" sagt, hat das längst nicht mehr diesen abwertenden Charakter, den wir damit noch verbinden - Frauen entwerten oder Frauen als Objekte betrachten. So erlebe ich das bei Roche nicht. Hier findet eine provokante Neubesetzung von Bedeutung statt.

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sueddeutsche.de: Trifft diese Neubesetzung nur auf unsere Umgangssprache zu?

Ulrike Brandenburg lehrt am Deutschen Institut für Sexualtherapie und führt eine Praxis für Paar- und Familientherapie in Aachen. (Foto: Foto: oh)

Brandenburg: Das erlebt man in der jungen Generation auf den verschiedensten Ebenen: Wie Mädchen sich inszenieren, wie Jungs sich inszenieren. Man darf nicht feminin, man darf nicht androgyn sein. Diese Fragen sind aber längst nicht mehr so ideologisch verhandelt, denn die Geschlechtergrenzen weichen auf. Die Fragen, was ist eine richtige Frau, was ist ein richtiger Mann, werden radikal neu verhandelt. Warum trauen sich denn intersexuelle Menschen gerade jetzt, Prozesse zu führen und ihre Rechte einzufordern? Eben weil es nicht mehr nur die zwei Geschlechter gibt. Gängige Bedeutungen werden ebenfalls in Roches Buch aus den Angeln gehoben. Das ist das Neue und Erfrischende daran.

sueddeutsche.de: Und dazu gehört auch wie selbstverständlich, dass Frauen sich Pornofilme ausleihen und Pornohefte für Frauen machen?

Brandenburg: Selbstverständlich ist das Ganze noch überhaupt nicht. Das merke ich bei meiner Arbeit mit Patienten, aber selbst mit angehenden Psychologen und Therapeuten - Leuten vom Fach also. Wir kennen uns mitunter verblüffend wenig aus auf diesem Gebiet. Aber es wird spielerischer damit umgegangen.

sueddeutsche.de: Müssen also Frauen, die das Thema Sex für sich beanspruchen, nach wie vor befürchten, als nymphoman und übertrieben zu gelten?

Brandenburg: Die Frauen selbst haben immer noch genügend Zweifel, ob ihr offensives Verhalten richtig oder falsch ist. Deswegen finde ich diese Provokation sehr wichtig. Es kommen immer wieder Patientinnen zu mir, deren Partner wenig begeistert ist, wenn die Frau aktiv sagt und macht, was sie will. Also muss die Frau erst mal ganz mädchenhaft sein und letzten Endes ihr Begehren so verkaufen, als wäre es seines. Dann klappts.

sueddeutsche.de: Der Mann reagiert also erst mal verschreckt auf eine sexuell offensive Frau?

Brandenburg: Auch da ist viel im Wandel. Es zeigt sich, dass gerade junge Männer es zunehmend begrüßen, wenn Frauen sagen, was sie wollen. Und gleichzeitig sind sie irritiert, denn sie haben noch das alte Idol im Kopf: "Sei ein Mann, sei ein Chauvi." Andererseits sollen sie die neuen Frauenversteher sein. Männer haben es doch kein Deut leichter. Mitunter sind sie in der Rollenfindung viel mehr in der Bredouille als die Frauen. Zwar bricht die Polarisierung zwischen den Geschlechtern langsam auf. Aber wenn Frauen zu offensiv ihr Begehren kommunizieren, stoßen sie - gerade im Privaten - nach wie vor oft auf Ablehnung. Insbesondere, wenn sie das auf so "unweibliche" Weise tun wie Charlotte Roche.

sueddeutsche.de: Muss sich der Mann in Zukunft auf eine sexuell sehr viel selbstbewusstere Frau einstellen?

Brandenburg: Ja. Diese Bewegung erreicht auch ältere Frauen. Zu uns kommen mittlerweile viele Frauen mittleren Alters, die noch mal über ihre Sexualität sprechen wollen. Sie kommen und sagen: "Ich habe keinen Orgasmus, ich würde da gern mal mit Ihnen drüber sprechen." Das macht - auch wenn es wenig öffentlich gezeigt wird - Mut.

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