Dem Geheimnis auf der Spur:Die Minna-Frage

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Was lief da? Der Meister der Psychoanalyse mit Gattin Martha (links) und Schwägerin Minna (rechts). (Foto: HR)

Kam es zum Äußersten zwischen Sigmund Freud und seiner Schwägerin Minna, der Schwester seiner Frau? Diese Frage wird seit Langem gestellt. Doch Freud war ein Virtuose der Verrätselung seiner selbst.

Von Volker Breidecker

Über Biografen schrieb Sigmund Freud, sie duldeten "keinen Rest von menschlicher Schwäche oder Unvollkommenheit". Im Leben ihres Helden darf daher nichts ohne Bedeutung sein und dem Zufall überlassen bleiben. Bedeutungsforschern ist der Begründer der Psychoanalyse selbst ein lohnendes Objekt, da Freud in exemplarischer Selbstanalyse eine Fülle autobiografischen Seelenmaterials aus seiner Kindheit, seinen Träumen und Albträumen und selbst aus banalsten Irrungen und Wirrungen des Alltagslebens gesammelt und in seinen Schriften ausgeplaudert hat.

So verlockend es also ist, Freud mit den Instrumenten seiner eigenen Lehre zu begegnen, ist doch Vorsicht vor Fernanalysen in Abwesenheit des Analysanden geboten, auch wenn Freud selbst sie nicht immer einhielt. Er wäre auch zu keinem Meister der Enträtselung geworden, wäre er nicht als begnadeter Schriftsteller, der vortreffliche Prosa schrieb, ein Virtuose der Verrätselung seiner selbst gewesen. Die zugehörigen Techniken und Verfahren hatte er schließlich ausgiebig studiert.

Minna folgte Schwester Martha nach Wien und wurde Mitglied im Haushalt Sigmund Freuds

Als habe er sich beizeiten vorgenommen, den Zudringlichkeiten der Nachwelt ein Schnippchen zu schlagen, schrieb schon der verliebte Jüngling an die Verlobte Martha Bernays: "Die Biografen aber sollen sich plagen, wir wollen's ihnen nicht zu leicht machen." Die vierjährige Verlöbniszeit des Paares war ziemlich prekär. Martha war in einer Gelehrtenfamilie zu Hause, Freud dagegen kam aus den völlig verarmten Verhältnissen mährischer Einwanderer. Die Abneigung von Marthas Mutter gegenüber der Liaison zwang das Paar zu Heimlichkeiten. In Marthas jüngerer Schwester Minna - ein Herz und eine Seele beisammen - gewann Freud eine verlässliche Komplizin, auf die er auch später noch zählen konnte.

Minna Bernays, die ihren tuberkulosekranken Verlobten früh verloren hatte, folgte der Schwester von Hamburg nach Wien und wurde zum fortan festen Mitglied im kinderreichen, hochgradig arbeitsteiligen Haushalt des ruhelosen Schwagers. Dessen Umtriebigkeit, die auf zahllosen Reisen Steigerung erfuhr, war Legende. Anders als die gar nicht reiselustige Ehefrau, taugte Freud auch nicht zum Kurgast. Unterwegs suchte er seiner ungestümen Abenteuer- und Entdeckerlust und dem Forschertrieb des Hobbyarchäologen freien Lauf zu lassen. Dabei jagte er so manchen Kindheitsträumen nach, sofern er ihnen nicht längst entsagt oder sie - wie die Reise zum Sehnsuchtsziel Rom - mit neurotischer Vermeidungshaltung immer wieder aufgeschoben hatte.

"Glück", so Freud, "gibt es nur als Erfüllung eines Kinderwunschs." Um auf Glück nicht ganz zu verzichten, ging er mit wechselnden Partnern auf Reisen, von denen er eine gewisse Expertise und Ausdauer verlangte, auch wenn es nach Süden ging, dahin, wohin "unser Herz" zeigte, "nach Feigen, Kastanien, Lorbeer, Zypressen, Häusern mit Balkonen." Allerdings muss das Reisen an seiner Seite eher mühselig gewesen sein: "Ich werde sie schon ordentlich herumtreiben", verspricht er der im Sommer 1898 in Bad Aussee ausharrenden Gemahlin, auch mit Minna in Graubünden unterwegs so zu verfahren: "Sie wird nach der Reise ähnlich schimpfen wie Du." Minna fügt dem Brief den ironischen Seufzer hinzu: "Wir wären also glücklich so weit, jede Nacht in einem anderen Bett zu schlafen, was ja Sigis Ideal ist."

Kaum zu glauben, dass Minna so unbedarft vom Bett im Singular geschrieben hätte, wäre sie auch Freuds Minnepartnerin gewesen. Seitdem ausgerechnet C. G. Jung, der seinen Patientinnen häufig genug selbst auf die Couch folgte, das Gerücht von Freuds vermeintlich sexuellem Verhältnis zu seiner Schwägerin in die Welt setzte, fehlt es nicht an gesuchten Fortschreibungen des Freud'schen Familienromans bis in die geheimsten Tiefen inzestuösen Begehrens. Was Freuds kanonischer Biograf Peter Gay die unlösbare "Minna-Frage" nannte, soll sich nach der Auffassung von Detektiven als ein magisches Dreieck in unablässigem Wiederholungszwang schon von Sigis Kindesbeinen an angebahnt haben - im wechselnden Bezug auf Mütter, Ersatzmütter und ein ganzes Heer späterer Wiedergänger und Wiedergängerinnen.

Als neuer Sherlock Holmes auf Freuds Spuren folgte der Heidelberger Soziologe und Psychoanalytiker Franz Maciejewski dem vermeintlichen Täter vor einigen Jahren bis ans buchstäbliche Ende der Welt, nach Graubünden, in die zerklüftete Urlandschaft des Majola-Passes am Ausgang des Silser Sees, wo es steil ins steinige Bergell hinab und weiter nach Freuds Herzenssüden, "gen Italien" geht. Im Gästeverzeichnis eines Hotels, in dem Freud und Minna im Sommer 1898 nächtigten, fand sich die handschriftliche Eintragung "Dr Sigm Freud u Frau, Wien". Ertappt!

Nur, was ist damit bewiesen? Genug minder libidinöse Gründe könnten Freud zum Eintrag veranlasst haben: Sparsamkeit, Aufsehen vermeiden, Hotel voll und kein weiteres Zimmer frei, der Einfachheit halber. Merkwürdig nur, dass der gewiefte Maciejewski, nachdem er am anderen Morgen noch erfährt, dass er selbst zusammen mit seiner Frau in dem verdächtigen "Freudzimmer" des Hauses genächtigt hat, sich nicht jetzt an dieser Stelle die jedem seriösen Psychoanalytiker gebotene Frage nach dem Anteil eigener Übertragungen und Gegenübertragungen an seiner Erzählung vorlegt. So wie wir gar nicht wissen wollen, was in der nämlichen Nacht zwischen dem Heidelberger Psychoanalytiker und seiner mutmaßlich legitimen Ehefrau in jener "camera matrimoniale" vorgegangen ist oder auch nicht, so durften auch Sigmund Freud und Minna Bernays ihr Geheimnis, wenn es denn eins gab, mit ins Grab genommen haben.

© SZ vom 28.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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