Markus Bärlocher, 57, arbeitet als Familien- und Paartherapeut in Nürnberg. Er hat sich auf ein Phänomen spezialisiert, das die Fachwelt Polyamory nennt. Gemeint sind Beziehungen, in denen ganz offiziell ein Dritter oder mehrere Partner mit im Bunde sind. Der gebürtige Schweizer hat selber verschiedene polyamore Beziehungen geführt. sueddeutsche.de sprach mit ihm über Eifersucht und Verlustängste.
sueddeutsche.de: Hallo Herr Bärlocher, wie geht es Ihren Frauen?
Markus Bärlocher: Danke, danke. Aber gerade lebe ich eher zölibatär.
sueddeutsche.de: Was genau versteht man unter einer polyamoren Beziehung?
Bärlocher: Die offene, ehrliche und langfristige Liebe zu mehreren Menschen im gegenseitigen Einvernehmen - als Alternative zum verletzenden Fremdgehen.
sueddeutsche.de: Wie bezeichnet man diese Personengruppe - als Polyamoristen?
Bärlocher: Es gibt keine Bezeichnung dafür. Die Lebensform nennt sich Polyamory, mit Betonung auf dem ersten o. Das Adjektiv ist polyamor. Man könnte sagen: Ich lebe in einer polyamoren Beziehung oder liebe mehrere Menschen.
sueddeutsche.de: Wann haben Sie dieses Gefühl erstmals bewusst gespürt?
Bärlocher: In der dritten Klasse hatte ich zwei Freundinnen. Der einen habe ich unter der Bank die Hand gehalten, während ich der anderen in ihre tiefschwarzen Augen blickte. Vom Unterricht habe ich nichts mitbekommen.
sueddeutsche.de: Wie fanden die beiden das?
Bärlocher: Wir waren uns absolut einig - die reine Form von Polyamory, wenn Sie so wollen.
sueddeutsche.de: Wo haben Sie das dann erstmals ausgelebt?
Bärlocher: In der Studentenzeit. Wir waren locker drauf, es war eine freie offene Art des Miteinanderumgehens. Man hat gelebt und geliebt.
sueddeutsche.de: Haben Sie nie befürchtet, jemand anderen zu verletzen?
Bärlocher: Diese Frage stellt sich für mich nicht. Ich sehe das Problem des Verletztseins immer als Frage der eigenen Wirklichkeit.
sueddeutsche.de: Das sagen Sie jetzt als Psychologe. Aber wie haben Sie es als junger Mann erlebt?
Bärlocher: Damals war Eifersucht einfach nur ein dummes Gefühl. Man stürzte sich auf den anderen und drohte: Wenn du meine Freundin nicht in Frieden lässt, gibt es ein blaues Auge.
sueddeutsche.de: Und heute, alles überwunden?
Bärlocher: Selbstverständlich bin ich eifersüchtig. Auch heute noch.
sueddeutsche.de: Trotz polyamorer Lebensweise!
Bärlocher: Ich kann es nicht verhindern. Überwinden kann ich es schon.
sueddeutsche.de: Wie haben Sie das geschafft?
Bärlocher: Indem ich Verständnis für die Phänomene der Eifersucht erlangt habe. Eifersucht ist ja kein Gefühl, sonder ein Konglomerat von vielen Gefühlen, vor allem: Verlustangst und Neid. Beide kann man sich genauer ansehen.
sueddeutsche.de: Wäre es nicht einfacher, sich mit einem Partner zu begnügen?
Bärlocher: Man kann diese Gefühle natürlich aussperren und sich versprechen, treu zu sein "bis dass der Tod uns scheidet". Das tun viele ja auch. Und glauben ernsthaft daran.
sueddeutsche.de: Befremdet Sie das?
Bärlocher: Ja, selbstverständlich. Auch wenn ich Paare kennengelernt habe, denen das gelingt.
sueddeutsche.de: Aber Sie müssen zugeben, dass es emotional und psychologisch weniger aufwändig ist, treu zu sein, als sich täglich aufs Neue mit Eifersucht herumzuschlagen.
Bärlocher: Das sehe ich anders. Treue bedeutet ja nicht nur das Erhalten der Gefühle. Auch die Gefühle zu Dritten muss ich unterdrücken. Und ich verlange, dass der andere seine Gefühle zu Dritten ebenfalls unterdrückt. Sonst kippt das ganze System.
sueddeutsche.de: Ist Eifersucht also ein typisches Problem monogamer Beziehungen?
Bärlocher: Nein, sie ist in jeder Beziehung eine Herausforderung. Man geht nur verschieden damit um. In einer monogamen Beziehung löst man das durch die sexuelle Ausschließlichkeit und nennt das Treue.
sueddeutsche.de: Ist Eifersucht automatisch schlecht?
Bärlocher: Für mich haben Gefühle an sich nie einen negativen Beigeschmack. Sie sind ein Ausdruck von Lebensenergie.
sueddeutsche.de: Dann muss Eifersucht auch nicht bekämpft werden?
Bärlocher: Ich will nichts bekämpfen, schon gar nicht als Therapeut. Ich will sehen: Was machen wir daraus?
sueddeutsche.de: Aber überwinden muss man sie ...
Bärlocher: Ich weiß nicht, ich kann gut damit leben. Sie hilft mir, genauer hinzusehen, mich besser kennenzulernen. Sie hilft mir, meinen Partner kennenzulernen und die Beziehung zu vertiefen. Eifersucht ist auch eine Folge der Illusion, Liebe wäre etwas Garantiertes. Diese Illusion verdeckt aber nur unsere tieferen Ängste.
Wie Eifersucht entsteht und wie man sie überwindet, lesen Sie auf der nächsten Seite ...
sueddeutsche.de: Wie entsteht Eifersucht?
Bärlocher: In erster Linie basiert dieses Gefühl auf Trennungs- und Verlustangst, Angst vor dem Alleinsein, Verlust der Geborgenheit, ökonomischer oder emotionaler Sicherheit, Angst vor Ohnmacht, aber auch Angst vor Autonomie oder Verlust der Autonomie. Und schließlich hat Eifersucht etwas mit Angst vor der Endlichkeit zu tun. Wir alle werden älter und sterben. Davor haben die meisten Menschen eine tiefe, unterschwellige Furcht. Eifersucht hat mit Todesangst zu tun.
sueddeutsche.de: Wie kann ich dagegen vorgehen?
Bärlocher: Erst einmal aufdröseln: Welche Ängste stecken dahinter? Was befürchte ich konkret? Dann sprechen Sie mit Ihrem Partner darüber: Seine Gefühle, meine Gefühle, wie gehen wir damit um? Wenn er sie liebt, wird er darauf eingehen. Er wird ernst nehmen, was Sie fühlen und sich wünschen.
sueddeutsche.de: Und wenn mir das nicht reicht? Wenn die Eifersucht nicht verschwindet? Wenn sie krankhaft ist?
Bärlocher: Dann hilft nur eine Therapie. Es kommt übrigens auch vor, dass der andere die Eifersucht des Partners bewusst instrumentalisiert, um ihn zu unterdrücken.
sueddeutsche.de: Glauben Sie, dass Eifersucht in der Natur des Menschen liegt - ähnlich wie Neid oder Angst?
Bärlocher: Nicht unbedingt. Es gibt Menschen, die kennen keine Eifersucht. Es gibt andere, die erleben das erst spät in ihrem Leben zum ersten Mal. Ich kann mir das auch nicht erklären. In diesem Moment komme ich mir vor, als hätte ich einen genetischen Defekt.
sueddeutsche.de: ... mit dem Sie offenbar ganz gut zurechtkommen ...
Bärlocher: Kennen Sie den Begriff der Mitfreude?
sueddeutsche.de: Sagt mir was. Ich kann mich aber nur bis zu einer gewissen Grenze mitfreuen.
Bärlocher: Dennoch wäre es theoretisch möglich, dass ein Partner einem anderen innig nahe ist und Sie sich darüber freuen?
sueddeutsche.de: Da halte ich es lieber mit der - in monogamen Beziehungen verbreiteten - Theorie: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.
Bärlocher: Wenn Sie meinen ...
sueddeutsche.de: Sie halten das für Selbstbetrug?
Bärlocher: Ja, aber das macht ja nichts - wenn Sie und Ihr Partner damit gut fahren, ist es doch in Ordnung.
sueddeutsche.de: Jetzt machen Sie sich aber über mich lustig!
Bärlocher: Aber nein. Ich denke nur, wenn jemand sagt: Ich will es nicht wissen, steckt Angst dahinter. Verlustangst, Neid oder Angst, teilen zu müssen.
sueddeutsche.de: Wie entsteht diese Angst?
Bärlocher: Die meisten haben sich als Kind geschworen: Wenn ich groß bin, will ich nie mehr teilen müssen.
sueddeutsche.de: Was müssen Kinder denn teilen?
Bärlocher: Eine Tochter den Vater, der immer mit der Mutter zusammen ist. Oder der Erstgeborene, der ein Geschwisterchen bekommt, und sich fragt: Warum noch ein Kind, die haben doch mich! Das sind grundlegende Fragen, auf die kein Kind wirklich erschöpfend Antworten findet.
sueddeutsche.de: Und wie geht es weiter?
Bärlocher: Später sind wir alle auf der Suche nach dem Prinzen, der den Vater ersetzt und mit dem wir das leben können. Kaum kommt ein Dritter ins Spiel, bricht das alles wieder auf: Die existenziellen Verlustängste kommen wieder hoch.
sueddeutsche.de: Sind Kinder, die in einer polyamoren Beziehung aufwachsen, später vor Eifersucht gefeit?
Bärlocher: Davon würde ich nicht ausgehen. Dieses Grundmuster Vater/Mutter/Kind ist in unserer Kultur einfach zu fest verankert.
Was polyamor lebende Menschen unter Treue verstehen, lesen Sie auf der nächsten Seite ...
sueddeutsche.de: Wie lerne ich, statt Eifersucht Mitfreude zu empfinden - muss ich dazu in Therapie?
Bärlocher: Nein. Man kann sich erst einmal fragen: Wieso mache ich einen Unterschied zwischen Freunden und Liebespartner? Hier tritt das Kuchenmodell in Erscheinung: Wenn ich einen Bruder habe, verliere ich die Hälfte der Liebe meiner Mutter. Liebe ist aber unerschöpflich.
sueddeutsche.de: Das weiß ich auch - im Kopf. Dennoch würde ich lügen, wenn ich sage: Ich freu mich ja so für dich, dass du mit Helga eine Woche auf die Malediven fliegst.
Bärlocher: Also lügen und heucheln darf man in dieser Hinsicht keinesfalls. Da ist eine wichtige Regel: Immer ehrlich und offen sein - auch in Bezug auf Dinge, die mich verletzen. Sonst vergebe ich mir und der Beziehung eine Entwicklungschance.
sueddeutsche.de: Was verstehen Sie in einer polyamoren Beziehung unter Treue?
Bärlocher: Treue ist Beständigkeit, Dauer, Langfristigkeit, Ehrlichkeit, Offenheit. Mit anderen Worten: Den anderen verlässlich und verbindlich Liebe schenken. Treue bedeutet aber auch, sich selbst, seinen Gefühlen und Wünschen treu zu sein und diese mit seinem Partner zu teilen. Treue bedeutet Absprachen einzuhalten. In Poly-Beziehungen werden Dritte nicht ängstlich oder entrüstet ausgegrenzt, sondern freundschaftlich und liebevoll einbezogen.
sueddeutsche.de: Was erwarten Sie von ihrer Partnerin?
Bärlocher: Ich erwarte Ehrlichkeit. Ich erwarte nicht, dass sie ausschließlich mit mir eine Liebesbeziehung hat. Sondern dass sie treu im Sinne von verlässlich und verbindlich in der Liebe zu mir ist. Wenn eine neue Liebe dazukommt, verliert das Alte nicht plötzlich an Wert, sondern darf dauerhaft sein. Dazu gehört, dass ich mich bewusst für die Liebe öffne.
sueddeutsche.de: Hatten Sie schon eine Beziehung, in der Sie einer von beiden Männern waren?
Bärlocher: Selbstverständlich ...
sueddeutsche.de: Wie war es für Sie, als der andere ins Spiel kam?
Bärlocher: Im ersten Moment ist es immer ein doppeltes Gefühl - Mitfreude einerseits, unangenehme Gefühle andererseits. Ich dachte mir: Jetzt muss ich mich mit Neid, Konkurrenz auseinandersetzen, muss mich beweisen, fühle Angst, sie zu verlieren.
sueddeutsche.de: Und wenn man sich dann geeinigt hat - macht man alles zu dritt?
Bärlocher: Nein, natürlich nicht! Aber manche Polys leben auch miteinander. Und wenn sich so etwas wie "Dreieinigkeit" einstellt, ist es wunderschön.
sueddeutsche.de: Wo liegt für mich der Vorteil, wenn ich mir einen Menschen mit einem anderen teilen muss?
Bärlocher: Sie denken schon wieder im Kuchenmodell. Es entsteht ein qualitativer Gewinn, nicht ein quantitativer. Wenn ich jemanden liebe, freue ich mich, dass es ihm gutgeht. Menschen, die dafür offen sind, erkennen: Eigentlich ist es Quatsch, nicht zu teilen. Wir gewinnen mehr Liebe - alle drei!
sueddeutsche.de: Kann so eine Beziehung denn halten?
Bärlocher: Ich kenne Beziehungen, die halten 20, 30 Jahre. Neulich hatte ich einen Mann, der lebt mit der Mutter seiner Kinder und einer gemeinsamen Freundin. Die eine Frau hat einen zweiten Mann, die andere hat immer mal wieder einen Geliebten.
Wie Frauen auf die Botschaft reagieren, dass sie nicht die Einzige sind, lesen Sie auf der nächsten Seite ...
sueddeutsche.de: Wie reagiert eine Frau darauf, wenn Sie ihr erklären, dass sie nicht die Einzige ist?
Bärlocher: Verschieden. Das geht von "Du Schweinehund!" über "Und was sagt deine Frau dazu?" bis zu "Endlich mal jemand, der auch so fühlt."
sueddeutsche.de: Auch wenn Sie jetzt wieder mit dem Kuchen kommen: Mein Tag hat nur 24 Stunden. In einer Poly-Beziehung sehe ich meine Partner doch seltener. Oder soll ich mich zerreißen?
Bärlocher: Ich kenne Polys, die ihre Arbeit deswegen reduziert haben.
sueddeutsche.de: Wie bitte?
Bärlocher: Einige sagen, mir ist Beziehung im Leben wichtiger als Reichtum.
sueddeutsche.de: Klingt beunruhigend ...
Bärlocher: Das sehe ich nicht so. Manche Menschen ertrinken in Arbeit, andere haben keine. Jeder sollte überlegen: Was ist mir wichtig im Leben.
sueddeutsche.de: Also Teilzeit arbeiten, um seine Partner zu sehen?
Bärlocher: Ich kenne gestandene Führungskräfte, die erkennen plötzlich: Sie wissen nichts von ihren Kindern, weil sie nie Zeit für sie hatten. Das ist auch nichts anderes.
sueddeutsche.de: Wären Sie theoretisch bereit, sich einem monogamen Partner zuliebe anzupassen?
Bärlocher: Das habe ich schon mehrmals gemacht. In vielen Phasen einer Beziehung ist gegenseitige Anpassung notwendig.
sueddeutsche.de: Aber grundsätzlich wünschen Sie sich was anderes?
Bärlocher: Grundsätzlich wünsche ich mir, dass alle Menschen frei sind in ihren Gefühlen. Meine Liebsten genauso wie ich selber.
sueddeutsche.de: Ist es nicht so - je mehr ich jemanden liebe, desto eifersüchtiger bin ich?
Bärlocher: Das ist Quatsch.
sueddeutsche.de: Ist Polyamory die Beziehungsform der Zukunft?
Bärlocher: Die Bekanntheit nimmt derzeit zwar zu, auch eine andere Wahrnehmung ist zu erkennen, für ein Umdenken reicht es aber nicht.
sueddeutsche.de: Ihre persönliche Definition von Eifersucht ...
Bärlocher: Eifersucht ist eine Chance, für die eigene Entwicklung und für die gemeinsame Entwicklung. Viele Menschen haben Angst vor Eifersucht und versuchen, sie zu unterdrücken. Dabei ist sie gar nicht das Hauptproblem. Es geht um die Chancen, die Energie, die entsteht, wenn man sich befreit von inneren Zwängen. Das ist was Schönes - egal, ob in einer Zweier- oder Achterbeziehung. Das können wir alle lernen.
sueddeutsche.de: Darf ich Ihnen zum Schluss noch eine Strophe aus Rilkes "Engelliedern" vorlesen?
Bärlocher: Aber bitte!
sueddeutsche.de: Seit mich mein Engel nicht mehr bewacht, kann er frei seine Flügel entfalten und die Stille der Sterne durchspalten, - denn er muss meine einsame Nacht nicht mehr die ängstlichen Hände halten - seit mein Engel mich nicht mehr bewacht.
Bärlocher: Klingt hübsch, können Sie mir das mal schicken?
sueddeutsche.de: Gern! Herr Bärlocher, ich bedanke mich für das Gespräch.