Abenteuer:Das wilde Treiben am Nordpol

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Es ist die größte Arktisexpedition der Geschichte, eine Forschungsreise ins Ungewisse. Doch die "Polarstern" kämpft mit vielen Schwierigkeiten: zu warmes Wetter, Stürme, Eistürme - und jetzt auch noch Corona.

Von Kai Strittmatter

Der Forschungseisbrecher „Polarstern“ im Einsatz. (Foto: Michael Gutsche)

Ein Telefonat mit der Polarstern , deutscher Forschungseisbrecher, Montag dieser Woche. Standort des Schiffes: eingeschlossen im arktischen Eis irgendwo oberhalb von Grönland und Spitzbergen. Die Leitung geht über Satellit, die Worte kommen mit Verzögerung an, mehrfach bricht das Gespräch ab. Am anderen Ende ist Torsten Kanzow, physikalischer Ozeanograf und amtierender Leiter der Expedition. Die Stimmung sei passabel, sagt er. Obwohl sie nun schon viel länger festsitzen im Polareis als geplant. Anfang April, nach zwei Monaten, hätte man sie eigentlich rausholen sollen. Das war der Plan, vor Corona. Cola sei aus, sagt Kanzow, Kartoffeln aber gebe es wohl genug. "Der Koch bereitet noch immer erstaunlich schmackhafte Dinge zu."

Immerhin: Sie haben sich auf den Weg gemacht. Endlich. "Nun ist es vollbracht", hatten sie am Sonntag in den Expeditionsblog geschrieben: die Eisscholle sauber aufgeräumt, der letzte Mann an Bord. "Wir nehmen Abschied und brechen uns nun unseren Weg gen Süden." Obwohl. "Man kann nicht wirklich behaupten, dass wir unterwegs sind", sagt Torsten Kanzow. Das Schiff ist schon kurz nach der Abfahrt in dichtes Eis gestoßen. Quälend langsam nur geht es voran.

Und während die Polarstern sich aus der Zentralarktis in den Süden quält, legten am selben Tag in Bremerhaven zwei Schiffe ab, an Bord 100 Mann, Proviant und Treibstoff, die ihr entgegenkommen. Ein Notfallplan, von dem lange keiner wusste, ob er so klappen würde.

Es war ein kühnes Unterfangen von Anfang an. Sich einfrieren lassen im Eis, ein Jahr lang. Sich huckepack nehmen lassen von einer Eisscholle und dann mit Schiff und Scholle am Nordpol vorübertreiben. Wie das vor mehr als 120 Jahren einmal Fridtjof Nansen getan hatte, die Reise damals machte Nansen zum norwegischen Nationalhelden. Und nun, 127 Jahre später: die größte Arktisexpedition aller Zeiten. 300 Wissenschaftler aus 20 Nationen, die sich abwechseln sollten auf einer Reise ins Eis, das die Menschen einmal ewig nannten. "Wir wissen nicht, was passieren wird", hatte der Kapitän der Polarstern gesagt, kurz bevor es dann losging im September vergangenen Jahres: "Planbar ist das nicht wirklich."

Eine Eisbärenmutter und ihr Junges betrachten auf einer Eisscholle Flaggen und Ausrüstung neben der Polarstern. (Foto: Esther Horvath)

Versucht hatten sie es, hatten sich in mehr als einem Jahrzehnt penibelster Vorbereitung Strategien erarbeitet für alle erdenklichen Herausforderungen: für die Kälte, für die Eisbären und für das aufreißende Eis, unter dem sich zu jeder Sekunde ein 4000 Meter tiefer Ozean auftun konnte. Sie hatten auf See dann mit neuen Herausforderungen zu kämpfen: Stürme, die wilder und häufiger auftraten als erwartet, Eisschollen, die nach dem wärmsten arktischen Sommer seit Beginn der Messungen zunächst weit dünner waren als vorhergesagt, überhaupt ein Eis, das sich unberechenbarer verhielt, das überraschend oft aufreißen und sich zu Eistürmen aufbauen konnte.

Mit einem aber hatten sie nicht gerechnet. Dass mit einem Mal "die Welt nicht mehr existiert, wie wir sie kennen", sagt Markus Rex. "Eine Welt, in der man einfach mal aus den USA nach Deutschland fliegen kann." Eine Welt, die mittlerweile vom Coronavirus aus den Angeln gehoben wurde. Markus Rex ist Atmosphärenforscher am Alfred-Wegener-Institut für Polarforschung in Potsdam, vor allem aber ist er der Projektleiter, er ist der Mann, der elf Jahre seines Lebens investiert hat in dieses Abenteuer, das sie Mosaic getauft haben, das steht für "Multidisciplinary drifting Observatory for the Study of Arctic Climate". Um ein Haar hätte ihm die Pandemie nun einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Markus Rex hat elf Jahre seines Lebens in dieses Abenteuer investiert. (Foto: Esther Horvath)

Ein Jahr im Eis, ein Jahr auf dem Eis, mit einem gewaltigen Forschungscamp, das war der Plan. Meereisforscher, Meteorologen, Ozeanologen, Geochemiker, Biologen, Atmosphärenforscher - Wissenschaftler aus aller Welt, vereint in einem Ziel: den letzten großen weißen Fleck in den Modellen der Klimaforschung zu vermessen. Den Energieaustausch zu messen vor allem, den Wärmefluss vom Ozean durch das Eis in die Atmosphäre etwa, und zwar in allen Jahreszeiten. Und so die Lücken zu schließen in den Klimamodellen, die an die Stelle beobachteter Arktisdaten bislang Ad-hoc-Annahmen setzen, "was in der Wissenschaft oft der freundliche Ausdruck für Raten ist", wie Markus Rex sagt.

Die Arktis spielt eine zentrale Rolle in unserem Klimasystem. Und es steigen die Temperaturen hier zwei- bis dreimal so schnell wie im Rest der Erde. Das Eis schwindet. Das Meereis der Arktis bedeckt heute fast ein Drittel weniger Fläche als noch vor drei Jahrzehnten. Dort, wo es noch existiert, ist es dünner als früher, und jünger. Unsere Generation ist vielleicht die letzte, die noch Zeuge sein darf einer ganzjährig vom Eis bedeckten Arktis. Eine eisarme, wärmere Arktis aber kann die Gletscher in Grönland weiter zum Schmelzen bringen und den Permafrost in Sibirien und Alaska. Sie bringt schon jetzt den früher steten Luftstrom der Westwinde durcheinander, die um die Arktis herum wehen und die die arktischen Luftmassen trennen von denen, die das Wetter bei uns bestimmen. Wenn aber Luftstrom ins Schlingern kommt, dann sind immer extremere, jahreszeitlich untypische Frosteinbrüche, Hitzewellen, Stürme und Hochwasser bei uns die Folgen.

Raten ist nicht genug, wenn wir erfahren möchten, was mit uns geschieht. Der deutsche Forschungseisbrecher Polarstern und die Frauen und Männer von Mosaic haben sich genau deshalb im Eis einfrieren lassen: um uns zu helfen, den Blick in die Zukunft zu tun. Einen Rekord haben sie nebenbei auf ihrer Drift schon gebrochen: Die Polarstern war dem Nordpol bis auf 156 Kilometer nahe gekommen, so nah wie noch nie ein Schiff im arktischen Winter.

Und dann, gerade zur Halbzeit der Expedition, schien alles auf dem Spiel zu stehen. Wegen des Virus. Die Leute auf der Polarstern werden turnusmäßig ausgetauscht, die Teams bestehen aus jeweils 60 Wissenschaftlern und Schiffscrew, die meisten bleiben für zwei Monate auf dem Eis. Der letzte Austausch hätte angestanden Anfang April. Geplant waren Flüge von der norwegischen Inselgruppe Spitzbergen aus hin zur Polarstern und ihrer Eisscholle, auf der das Team eine Landebahn freigeschaufelt hatte. Aber Spitzbergen, auf der eine Gemeinde von nur 2500 Menschen lebt mit einem kleinen Krankenhaus, machte dicht aus Angst vor Covid-19. Und die Wissenschaftler, die anreisen sollten aus aller Welt, sahen sich mit einem Mal strengen Reisebeschränkungen ihrer Länder unterworfen.

Mitglieder des internationalen "Mosaic"-Teams. (Foto: Benjamin Rabe)

Als klar war, dass die Flüge nicht mehr möglich waren, suchten die Verantwortlichen fieberhaft nach Alternativen. "Wir entwickelten mindestens ein Dutzend verschiedener Szenarien", erzählt Rex. "Aber wieder und wieder stießen wir auf ein Stoppschild." China und Russland boten Hilfe an, aber ihre Eisbrecher waren in der Antarktis unterwegs, am anderen Ende der Welt. "Es hing am seidenen Faden."

Am Ende kam Hilfe aus Deutschland, schnell und unbürokratisch. Forschungsschiffe, deren Nutzung man normalerweise zwei Jahre im Voraus beantragen muss, wurden innerhalb weniger Wochen startklar gemacht. Ausnahmegenehmigungen wurden in fast 20 Staaten eingeholt für jeden der 100 Mann, die schließlich in Bremerhaven eintrafen und dort im Hotel für zwei Wochen in Quarantäne gingen. Als die SZ zum ersten Mal in dem Hotel anrief, hatten sich die so isolierten Wissenschaftler gerade an ihren Hotelfenstern verabredet zum gemeinsamen Singen von "Yellow Submarine". Vergangenen Montag schließlich stachen die Schiffe Sonne und Maria S. Merian in See, mit Kurs auf Spitzbergen, um dort in einem Fjord die Polarstern zu treffen. Dann werden auf dem Wasser Mannschaften, Proviant und Treibstoff ausgetauscht.

Team drei, das doppelt so lange unterwegs war wie geplant, darf nach Hause fahren. Team vier steigt auf die Polarstern und nimmt erneut Kurs gen Norden. Zurück zu jener Eisscholle, die sich das Schiff vor sieben Monaten als Heimat für die Drift vorbei am Nordpol ausgeguckt hatte. Eine Scholle, die schon jetzt "besser erforscht und beprobt wurde als jemals eine Scholle zuvor", wie sie im Blog schrieben. Und die nun, gegen die ursprüngliche Absicht, für ein paar Wochen allein gelassen wird, damit die Polarstern ihre Eingeschlossenen der Welt zurückgeben kann.

Ein Großteil der Instrumente auf dem Forschungscamp, das Mosaic auf der zweieinhalb mal dreieinhalb Kilometer großen Eisscholle errichtet hatte, wurde von den Rückkehrern für die Zeit der Abwesenheit vom Eis geborgen: die wertvollen, wie der Unterwasserroboter, der ferngesteuert unterm Eis unterwegs ist, aber auch solche, die wegen ihres Plastik- oder Treibstoffgehalts ein Umweltrisiko hätten darstellen können. Ein paar autonome Messstationen nur sind verblieben. Ja, sagt Markus Rex, jeder Tag, an dem nicht gemessen werde, tue ihm weh. "Aber wir standen vor einem Abbruch der Expedition. Da sind wir mit drei Wochen Unterbrechung noch sehr gut bedient." Die Messungen des ersten Halbjahrs haben jetzt schon Daten geliefert, deren Auswertung die Forscher auf Jahre hinaus beschäftigen wird.

Markus Rex wird nun selber wieder dabei sein. Er hatte schon Team eins angeführt, das sich letzten Herbst seinen Weg eine ganze Weile erst durch stark erodiertes Eis bahnen musste, "das aussah wie ein Schweizer Käse" (Rex), bevor es doch noch eine geeignete Scholle aus älterem, dickerem Eis fand. In der aufziehenden Polarnacht bauten sie darauf ihr Forschungscamp auf, das "wir uns immer nur gedanklich im Kopf zusammensetzen konnten". Sie bekamen es in der Dunkelheit nie in Gänze zu Gesicht. Rex beschreibt die Polarnacht als "brillante Schwärze". "Wenn man sich in dieser Dunkelheit auf dem Eis bewegt, schrumpft die Welt zusammen auf eine kleine durch den Lichtschein der eigenen Stirnlampe geschaffene Blase", sagt Markus Rex.

Möglicherweise ist die Rückkehr der Polarstern zur alten Scholle nun nur ein Zwischenstopp, und das Team sucht sich einen neuen Ort weiter nördlich im Eis. Die starken Winde und Stürme der letzten Monate sorgten dafür, dass die Drift Scholle und Schiff noch schneller durch die Arktis nach Süden trieb als berechnet, sodass sie zuletzt nicht mehr weit von der Eiskante lagen. Die Scholle sei kurz vor der Abfahrt noch stark in Bewegung gewesen, berichtet Torsten Kanzow. "Sie ist entlang vieler kleiner Spalten auseinandergebrochen."

Die Eisdynamik, sagt Rex, das sei in diesem Ausmaß auch für ihn etwas Neues gewesen. Er erzählt von dem Spektakel, wenn an einer Stelle das Eis aufbricht mit einem lauten Knall, dem ein gewaltiges Rumpeln folgt. Wie das Eis unter den Füßen zu vibrieren beginnt. "Dann hört man ein lautes kreischendes Quietschen", sagt Rex, "manchmal wie Babygeschrei." Und dann türmen sich neben einem die Presseisrücken auf, gewaltige Gebirge. Manchmal dauert das nur eine halbe oder eine Stunde. Und bisweilen erwischt es einen, wenn man schon im Bett liegt, dann stürzt man sich in den bereitgelegten Polaranzug, das dauert auch anstrengende zehn bis 15 Minuten, ein, zwei Leute machen die Gewehre fertig, wegen der Eisbären, und dann eilt man aufs Eis, um die kostbaren Instrumente zu retten, bevor das sich auftürmende Eis sie verschlingt.

Das Eis zu vermessen und zu beschreiben, die Risse, den Schnee, den Ozean, die Wolken und den Wind, und wie das alles zusammenspielt, dazu sind sie nun wieder unterwegs. Damit man das Klimasystem der Arktis in den Modellen korrekt abbilden kann, damit die Politik robuste Vorhersagen bekommt. Im Moment, meint Rex, gehe es uns so wie jemandem, der ein generelles Verständnis davon habe, dass eine Uhr die Zeit anzeigt, der aber nicht genau weiß, wie diese Uhr funktioniert. "Wer diese Uhr aber das erste Mal aufschraubt und hineinguckt, wer jede einzelne Feder und jedes Zahnrad und jedes Schränkchen studiert, für den setzt sich allmählich ein Bild zusammen, und irgendwann wird er verstanden haben, wie eine Uhr funktioniert, und er wird selbst eine Uhr bauen können."

Markus Rex war erleichtert und glücklich beim letzten Telefonat kurz vor der Abfahrt von Bremerhaven. Die Expedition ist gerettet, sein Team wurde beim Corona-Test bis auf den letzten Mann negativ getestet. Die Ungeduld war ihm anzuhören: "Jetzt wollen wir aber auch alle hin, ins Eis!"

Oben, im Eis, wo die anderen noch festsitzen, da ist die Ungeduld nicht minder groß. Endlich nach Hause. Die Welt, in der Torsten Kanzow und seine Leute zurückkehren, wird eine andere sein als die, die sie verlassen haben. "Diesen Corona-Hintergrund", sagt Kanzow einmal am Telefon, "den kann man von hier aus nur schwer begreifen". Sie kommunizieren per E-Mail und Whatsapp mit ihren Familien. Nur Text, Fotos schafft die Leitung nicht. Einmal am Tag gibt es an Bord einen Newsletter mit den wichtigsten Nachrichten. Im Internet gesurft haben sie zuletzt zu Hause, vor ihrer Abfahrt. Bevor das Virus ihre Heimatländer erreichte. "Wir wissen nicht, wie sich das anfühlt, das Leben in Corona-Zeiten", sagt Kanzow. Aber erst einmal müsse man das überhaupt hinkriegen, mit dem Zurückkommen, sagt er, und lacht kurz auf. "Wir haben gerade wieder alle Maschinen gestoppt." Das Eis.

© SZ vom 23.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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