Zwischen Mittelalter und Neuzeit:Der falsche Ernst

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Der Abrogans, das älteste deutsche Buch, steht im Zentrum von Franz Hohlers neuem Roman. Ein Mann erhält versehentlich eine Abschrift. Eine abenteuerliche Reise beginnt.

Von Barbara Hordych

Es ist ein Ruf, den der nüchterne Zürcher Bibliothekar Ernst Stricker erst nach einigem Zögern annimmt. Denn eigentlich verwaltet er nicht nur Bücher, sondern auch sein ganzes Leben in genau geordneten Kategorien. Besuch bei und von Freunden gibt es nur nach vorheriger Ankündigung, "feurige Abende" mit seiner Frau Jacqueline nur nach Absprache. Denn man liebt und schätzt einander zwar, doch nur in getrennten Zimmern.

Dennoch passiert das Unerwartete. In der Unterführung des Berner Hauptbahnhofs reagiert Ernst Stricker aus einer Augenblickslaune heraus auf das Klingeln einer öffentlichen Telefonsäule. Und er sucht die alte Frau, die ihn um seine Hilfe bittet, kurz darauf tatsächlich in ihrer vermüllten Wohnung auf. Weil die sehbehinderte Alte den Besucher mit ihrem Neffen gleichen Namens verwechselt, vertraut sie dem falschen Ernst ein Päckchen an. Nach dem wurde schon bei ihr gesucht, erzählt sie ängstlich. Stricker ist zwar kein Handschriftenspezialist, aber als Bibliothekar erkennt er rasch, um welch wertvolles Objekt es sich handelt: ein Exemplar des "Abrogans", eines lateinisch-althochdeutschen Wörterbuchs, das von Mönchen im 8. Jahrhundert verfasst wurde und als ältestes deutschsprachiges Buch überhaupt gilt. Sollte es sich bei dem Fund sogar um das bisher verschollene Original handeln?

Für mich ist der Abrogans wie ein menschlicher Ruf über die Jahrhunderte hinweg

"Das Päckchen" ist der neue Roman des Schweizer Autors Franz Hohler, der als junger Germanistikstudent vor Jahrzehnten eine Studienreise zur Stiftsbibliothek nach St. Gallen unternahm. "Unser Professor für Althochdeutsche Studien zeigte uns dort den ,Abrogans'. Die alte Handschrift hat mich tief beeindruckt", erinnert sich Hohler. Um darin zu blättern, musste man sich Handschuhe überziehen, damit das Fett der Haut nicht die Schrift beschädigte. Schon damals gingen die Wissenschaftler davon aus, dass es sich bei dem Exemplar um eine Abschrift handele, "die Entstehung des Originals vermuteten sie irgendwo im Süddeutschen Raum, vielleicht in Bayern". Soweit die Historie, die private und die sprachwissenschaftliche.

Jahrzehnte später machte Hohler diese These zum Ausgangspunkt seines neuen Romans: In der springt die Handlung mit der Übernahme des Päckchens, in deren Folge sich der Bibliothekar immer tiefer in die Geschichte des wertvollen Funds, aber auch in Lügen und gewagte Unternehmungen verstrickt, zurück in das Jahr 772, in karolingische Zeiten. In der Parallelhandlung arbeitet der Mönch Heimo im Scriptorium des Klosters Weltenburg bei Regensburg auf Geheiß seines Abtes an der Erstellung eines Synonymwörterbuchs. Neben die lateinischen Begriffe setzt er die deutschen Äquivalente. "Abrogans" - "dheomodi" (Demut) lautet das erste Wort, das später auch der Titel werden sollte, unter dem das Glossar bekannt wurde. Für die germanistische Sprachforschung ist es heute von unschätzbarem Wert, sind doch rund 3600 althochdeutsche Wörter auf den Pergamentseiten überliefert, die am Ende noch ein Glaubensbekenntnis und das Vaterunser, "Fater unseer" aufführen. Zwei Jahre braucht der fiktive Heimo für sein geliebtes Schreibprojekt. Mindestens ebenso sehr liebt er allerdings das Mädchen Maria, eine Zuneigung, die ihm untersagt ist. "Das Zölibat war von Anfang an eine viel zu große Herausforderung für die Männer", sagt Hohler. Insbesondere, wenn der Eintritt ins Kloster nicht auf eigenen Entschluss, sondern auf den der Eltern hin erfolgte. "So geschah es damals häufig, ein Schicksal, das auch Heimo widerfährt." Der Autor lässt seinen jungen Helden den Konflikt auf unkonventionelle Weise lösen: Als ihn sein Abt auf eine mehrjährige Reise von Kloster zu Kloster schickt, um den Abrogans abschreiben zu lassen und parallel dazu selbst andere Werke abzuschreiben, nimmt er Maria einfach mit. "Das ist natürlich eine Fiktion", sagt Hohler. Wobei die Abschreibepraxis unter den Klöstern eine historisch verbürgte Vorgehensweise gewesen sei. Heimos Ziel heißt Montecassino, das Hauptkloster der Benediktiner. Doch es wird schließlich Ernst Stricker sein, der dieses Ziel erreicht.

Hohlers Erzählung imaginiert, wie die Entstehung des Originals sich hätte ereignet haben können. Eine Fiktion, die sich im Mai dieses Jahres überraschend mit der Realität kreuzte: Im Benediktinerkloster Admont in Österreich tauchten zwei Blätter auf, die zweifelsfrei dem ältesten deutschen Buch zuzuordnen sind. "Für mich ist der Abrogans wie ein menschlicher Ruf über die Jahrhunderte hinweg", sagt Hohler. Ein Ruf, den er auch ganz konkret annehmen würde, so wie seine Figur Ernst Stricker? "Aber sicher", sagt Hohler und lacht. "Ich trage sogar ständig diese Telefonkarten bei mir, um die wenigen öffentlichen Telefonzellen zu unterstützen."

Franz Hohler, Das Päckchen, Lesung: Samstag, 18. November, 19 Uhr, Gasteig, Black Box

© SZ vom 02.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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