Zum Tod Ryszard Kapuscinskis:Nur wer aus der Provinz kommt, erkennt die Welt

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Kein Geld für lange Sätze, aber den Kopf voller Bildung: Ein Nachruf auf den polnischen Schriftsteller und Reporter Ryszard Kapuscinski.

Andrian Kreye

In seinem letzten Buch "Reisen mit Herodot" erzählt der am Dienstag in Warschau verstorbene Schriftsteller und Journalist Ryszard Kapuscinski vom Werk des antiken Schriftstellers, wie es ihn all die Jahre auf seinen Reisen in die Kriegs- und Krisengebiete begleitete. In den "Historien" des Herodot hatte Kapuscinski einen frühen Humanisten mit weit gespanntem Blick auf die Welt gefunden.

Ryszard Kapuscinski im Jahr 1986. (Foto: Foto: ap)

Sein ganzes Berufsleben lang hatte ihm dieser Blick als Orientierung für seine Berichte aus Afrika, Asien und Lateinamerika gedient. Und so wie Herodot für Kapuscinski wurde Kapuscinski selbst zu einer Orientierung für eine ganze Generation junger Journalisten, die mit seinen Büchern im Gepäck um die Welt reisten. Immer wenn sie nicht weiterwussten, blätterten die jungen Reporter in seinen Klassikern, im "König der Könige", in "Der Fußballkrieg" oder in "Wieder ein Tag im Leben".

Sicher, es gab auch andere literarische Vorbilder, die das Schreiben als Reporter begonnen hatten. Man bewunderte Ernest Hemingway für seine Draufgängerei, Gabriel Garcia Marquez für seine Poesie, Tom Wolfe für seinen Ton.

Klarer Blick ins Chaos

Doch gerade in den Jahren nach dem Kalten Krieg, als sich die Weltereignisse überstürzten und kaum ein Parameter der alten Welt noch Geltung hatte, war Kapuscinskis klarer, unideologischer Blick ins Chaos sowie seine unnachahmliche Art, ein Höchstmaß an Informationen, Atmosphäre und Hintergrundwissen mit einem Minimum an Wörtern zu vermitteln, einer der wenigen Anhaltspunkte, die Ordnung schaffen konnten.

Keiner hat ihm je das Wasser reichen können. Nicht zuletzt, weil das Geheimnis seines Schreibens in seinem Lebenslauf lag. Im Jahr 1932 als Sohn eines Lehrerpaares im ostpolnischen Pinsk geboren, zog er als Knabe mit seinen Eltern nach Warschau. Rückblickend sagte er immer wieder, dass es seine Kindheit in einer der seiner Meinung nach unterentwickeltsten Gegenden Europas war, die diese unstillbare Neugier auf die Welt in ihm weckte.

Zunächst studierte Kapuscinski Geschichte und verdingte sich nach dem Abschluss für eine kommunistische Jugendzeitung. Schon seine erste Geschichte über das Elend der Stahlarbeiter von Krakau handelte ihm großen Ärger ein. Er wurde gefeuert und musste sich verstecken. Als sich die Reformer gegen die Stalinisten durchgesetzt hatten, bestätigte ein Untersuchungsausschuss Kapuscinskis Recherchen - und er wurde mit dem Goldenen Verdienstkreuz Polens ausgezeichnet.

Kern seines Werkes sind jedoch die Jahre, in denen er als Korrespondent der polnischen Nachrichtenagentur PAP aus der Dritten Welt berichtete, jahrzehntelang von einem Kriegsschauplatz zum nächsten eilend. Unterwegs schrieb er im Jahr 1975 das Buch, das ihn zur Legende machte. "König der Könige" gilt bis heute als exemplarisches Beispiel für den literarischen Ideentransfer, weil seine Reportage über das Regime des äthiopischen Diktators Haile Selassi eindeutig als Parabel auf die Macht des polnischen Zentralkomitees gelesen wurde. Die Reportage "Schah-in-schah" über die letzten Wochen des Schahs in Persien hingegen lässt sich heute als scharfe Analyse des aufziehenden Globalkapitalismus verstehen.

Insgesamt 27 Revolutionen und Staatsstreiche hat Kapuscinski im Laufe seines Lebens miterlebt, dazu unzählige Kriege und Bürgerkriege. Einer seiner stärksten Texte ist die Buchfassung seiner Reportage "Wieder ein Tag im Leben", in der er beschreibt, wie die angolanische Hauptstadt Luanda langsam ausstirbt, während die Truppen der Unita-Rebellen mit Hilfe der Südafrikaner anrücken. Kaum ein anderer Autor hat Sprache so verdichten können.

Und auch dafür gibt es eine Erklärung. In "Der Fußballkrieg" beschreibt Kapuscinski immer wieder, unter welch extremen Bedingungen er als praktisch mittelloser Korrespondent arbeiten musste. Oft reiste er per Anhalter. Wenn er seine Berichte aus einem der unzähligen Postämter in den Kriegsgebieten per Telex oder Telegraf nach Warschau übermittelte, zählte jedes Wort. Denn jedes Wort kostete Geld. Für lange Sätze war meist nicht genug übrig.

Die spartanische Ausstattung seines Postens zwang Kapuscinski, sich unmittelbar auf die Länder und Menschen einzulassen. Es ging ihm deutlich schlechter als seinen westlichen Kollegen, die, mit Spesenkonten ausgestattet, in den besseren Hotels absteigen, Fahrer und Übersetzer anheuern und endlos mit der Heimat telefonieren konnten.

Deswegen wird Kapuscinski in all seinen Büchern auch immer selbst Teil der Geschichte. Und weil er als Korrespondent eines sozialistischen Satellitenstaates meist einen anderen Zugang zu den Frontlinien bekam, zeichnet sein Werk auch ein ganz anderes Bild von der Welt in den Jahren des Kalten Krieges.

Doch es waren nicht nur die Umstände und seine Neugier, die ihn immer wieder zu einem Kandidaten für den Nobelpreis für Literatur machten. Schon die ersten englischen Übersetzungen seines "König der Könige" brachten ihm die Bewunderung von westlichen Intellektuellen wie John Updike, Salman Rushdie und Susan Sontag ein. Denn zu seinem scharfen Reporterblick und seinem unnachahmlichen Sprachgefühl gesellte sich ein unersättlicher Bildungshunger.

Die Wirklichkeit zu wichtig

Schon früh hatte er sich quer durch die Weltliteratur gelesen, die Schlüsselwerke der Philosophen und Geschichtsschreiber gelesen. Bekam er einen Auftrag, bereitete er sich mit der Akribie eines Historikers vor. Kein Detail, kein Aspekt eines Landes, über das er berichtete, war ihm zu unwichtig. Aus jedem seiner Sätze sprach ein enormes Wissen, das er scheinbar mühelos in seinen Erzählfluss einbrachte.

Seine Neugier hat Ryszard Kapuscinski nie losgelassen. Auch nach seiner Rückkehr nach Warschau, als er nicht mehr die meiste Zeit in der Ferne und auf Reisen verbrachte und nicht mehr als Reporter lebte, drängte es ihn hinaus. Für sein Buch "Imperium" bereiste er Anfang der neunziger Jahre noch einmal die gesamte Sowjetunion.

In New York, Paris und London trat er dann als gefeierter Autor auf. Die Rolle gefiel ihm nicht. Er hörte lieber zu und ließ die anderen reden. Doch selbst diese Reisen verarbeitete er zu seinem "Lapidarium", losen Aufzeichnungen aus allen Teilen der Welt. Nur eines hat er nie gewagt - trotz seiner literarischen Fähigkeiten hat er sich nie an die Fiktion gewagt. Dazu war ihm die Wirklichkeit zu wichtig.

In den letzten Jahre seines Lebens ließ sich Ryszard Kapuscinski nur ungern vom Alter bremsen. Sechs Bypass-Operationen musste er über sich ergehen lassen. Am Dienstagabend ist er nach einem Herzinfarkt in Warschau gestorben. Er hinterlässt seine Frau Alicja Mielyzarek und seine Tochter Zofia. Er war 74 Jahre alt.

© SZ vom 25.1.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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