Zukunft der Aufklärung:Nach dem Sex die Gewalt?

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Werden "Thrill", "Kick" und "Ekstase bald nicht mehr im Sex, sondern in der Gewalt gefunden werden? Der Frankfurter Sexualforscher Volkmar Sigusch zieht eine ernüchternde Bilanz der sexuellen Befreiung.

Aufklärung hätte ein besseres Schicksal verdient, als zum frivolen Wortspiel zu verkommen, mit dem ein prominenter Pädagoge die an seinen Schutzempfohlenen verübte sexuelle Gewalt camouflierte, um dem pädosexuellen System, das er innerhalb seines kleinen Reichs errichtet hatte, auch noch höhere bildungspolitische Weihen zuteil werden zu lassen.

Den Teufel an der Hand - Zeichnung eines sexuell missbrauchten Kindes von den Philippinen. Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) schätzt, dass allein in Asien jedes Jahr eine Million Kinder und Jugendliche ins kommerzielle Sex-Geschäft gezwungen werden. (Foto: DDP)

Mit schamloser Unverfrorenheit gab Gerold Becker der von ihm zum 80. Geburtstag des Bildungsforschers Hellmut Becker - seines Ziehvaters und Schutzpatrons - herausgegebenen Festschrift den Titel "Lust und Last der Aufklärung" (Beltz Verlag, 1993). Dass die im Gegenzug zu Gerold Beckers 60. Geburtstag von Hellmut Beckers Witwe Antoinette Becker gemeinsam mit Gerold Beckers Freund Hartmut von Hentig besorgte Festgabe (Friedrich Verlag, 1996) dann im Titel ausgerechnet von "Geschichten mit Kindern" handelt - und erstmals auch Hentigs Erzählung vom denkwürdigen Segeltörn zweier Kavaliere in Begleitung eines zehnjährigem Knaben durch die Feuchtgebiete der Ägäis enthielt -, macht die Affäre um die einst von Gerold Becker geleitete Odenwaldschule klebriger noch, als sie es ohnehin ist.

Sexualwissenschaftliche Thesen zur Missbrauchsdebatte, die längst keine Debatte mehr ist, weil die, die sie am meisten anginge, dazu betreten oder starrsinnig schweigen und weil kein kontinuierlicher Nachschub an skandalisierenden Details die voyeuristischen Bedürfnisse der Medienöffentlichkeit befriedigt, stehen auch am Anfang eines neuen Buchs, mit dem der Frankfurter Sexualforscher, Mediziner und Soziologe Volkmar Sigusch eine ernüchternde Bilanz der sexuellen Revolutionen des vorigen Jahrhunderts zieht: Trotz aller Aufbrüche in ein Reich vermeintlich grenzenloser sexueller Freiheiten und trotz einer nie dagewesenen Banalisierung des Sexus dauert das alte "sexuelle Elend" unvermindert fort, es hat lediglich neue Süchte, Perversionen und Probleme hervorgebracht, und wir sind "freie Unfreie" geblieben.

Nichts bestätigt diesen Befund heute nachdrücklicher als das erschreckende Ausmaß sexuell motivierter Gewalt gegenüber Kindern und Heranwachsenden in Familien wie in öffentlichen kulturellen Einrichtungen, und - im scheinbar paradoxen Bezug zum allgegenwärtig penetranten Palaver über Sex - "das beinahe allgemeine Wegschauen und Verschweigen", das Vorhandensein undurchdringlicher "Schweigemauern" und männerbündischer "Schweigekartelle", was Sigusch zufolge "eines der letzten sexuellen Tabus" umgibt und umstellt.

Ist im Zeitalter der von Sigusch in seiner früheren Studie "Über den kulturellen Wandel von Liebe und Perversion" (2005) konstatierten "Neosexualitäten" jede sexuelle Handlung und auch jede Perversion verhandlungs- und vertragsfähig - der Fall ist noch nicht lange her, da verlangten einige Juristen und selbsternannte Experten Straffreiheit sogar für sexuellen Kannibalismus, sofern nur das Opfer selbst in die Tat einwilligt -, so sind Kinder und Heranwachsende als nicht gleichwertig vertragsfähige Partner aus solchen Verhältnissen ausgenommen.

Unüberwindlicher Abgrund

Gerade deshalb aber üben sie einen offenbar zusätzlichen "Thrill" auf diejenigen aus, die es aufgrund ihrer pädophilen Veranlagung und pädosexuellen Neigungen ohnehin auf sie abgesehen haben.

Zum "Abgesang auf Aufklärung" erklärt Sigusch die unter manchen Reformpädagogen und ihren Nachbetern, in der Vergangenheit zumal auch im linksalternativen Milieu verbreitete Anschauung, "10-jährige Kinder könnten sexuelle Handlungen eines Erwachsenen an sich oder an ihnen ohne Angst und Scham erleben". Das bedeute nicht, räumt Sigusch ein, "Kinder hätten keine sexuellen Regungen. Sicher ist aber, dass sich diese Regungen nicht auf Erwachsene richten", und schon gar nicht auf die Verkörperungen elterlicher oder pädagogischer Autoritäten.

Deutlicher noch schreibt Sigusch, Thesen seines vor wenigen Wochen tödlich verunglückten alten Mitstreiters Günter Amendt aufnehmend: "Zwischen der kindlichen Sexualität und der eines Erwachsenen klafft ein unüberwindlicher Abgrund, der nur durch mehr oder weniger erkennbare Gewaltanwendung und Machtausübung überwunden werden kann - mit den bekannten Folgen."

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Wenn dieser Abgrund, wie wir wissen, in unserer Gesellschaft - befördert durch Kindersextourismus, Kinderhandel und Kindersex im Internet - zunehmend und mit unbeschreiblicher Brutalität überschritten wird, öffnet sich gerade da womöglich die fatale Nahtstelle zu einer ziemlich pessimistischen Zukunftsprognose des Sexualwissenschaftlers: Nach Beseitigung aller Tabus und Verflüchtigung aller Geheimnisse des Eros hält Sigusch es für nicht unwahrscheinlich, dass das "sexuelle Zeitalter" demnächst "sang- und klanglos" zu Ende ginge. Dann aber, so befürchtet Sigusch werden "Thrill", "Kick" und "Ekstase bald nicht mehr im Sex, sondern in der Gewalt gefunden werden".

So versteht sich auch, dass das sexuelle Schicksal unserer Kinder der Prüfstein für das Gelingen oder Misslingen von Aufklärung und Zivilisation ist: An der sexuellen Ausbeutung des natürlichen Machtgefälles zwischen Erwachsenen und Kindern zeigt sich, wie es tatsächlich um die Ideale von Aufklärung und sexueller Freiheit in unserer Gesellschaft bestellt ist - nämlich ziemlich trist und im hohen Maße der Erforschung und der Therapien bedürftig.

Ähnliches gilt für jedweden Umgang der Gesellschaft mit Schwächeren, mit Minoritäten, mit sexuell und in welch sonstigen Beziehungen auch immer von einer vermeintlichen Norm Abweichenden - das Festhalten solcher Normen, auch in der Fixierung auf die bloße Zweigeschlechtlichkeit, ist für Sigusch als "Normopathie" lediglich eine weitere "Paraphilie" aus dem großen Füllhorn der Perversionen.

Dieses Buch, das zumeist an entlegener Stelle schon früher Veröffentlichtes zu fünf Themenkreisen versammelt - "Mundus sexualis", "Homosexuelle und Homosexualität", "Neosexalität und Neogeschlechter", "Sexualität und Politik", "Sexualität und Wissenschaft" - wirft seine kritischen Blicke aber durchaus auch auf die Paradoxien und historischen wie biologistischen Abwege des eigenen Fachs.

Manche Redundanzen und Wiederholungen seien dem Buch ebenso verziehen wie die vielen, zuweilen etwas päpstlich wirkenden Selbstbespiegelungen und Selbsthistorisierungen. Sigusch ist in der merkwürdigen und nicht gerade beneidenswerten Lage, dass er sich und seine Wissenschaft aus einer äußeren Zwangslage heraus historisieren muss.

Gegen alle Widerstände abgewickelt

Denn so sehr gerade dieses Buch in seinem fragmentarischen Charakter - ähnlich wie schon die "Neosexualitäten" -, plausibel demonstriert, wie viele Fragen und Probleme, die ihrer gründlichen Erforschung und wissenschaftlichen Behandlung bedürften, nach wie vor offen geblieben sind, wurde das kleine Orchideenfach an der Frankfurter Universität nach der Emeritierung Siguschs, der in Personalunion den Mediziner mit dem Soziologen verband, gegen alle Widerstände und internationalen Proteste abgewickelt.

Folglich ist Sigusch in der doppelten Rolle des einsamen Akteurs und des Historiographen eines schon einmal - nach 1933 - aus Deutschland vertriebenen Fachs, das durch ihn und seine Mitstreiter, Reimut Reiche und Martin Dannecker vor allem, in den sechziger Jahren kritische Neubegründung erfahren hatte. So kamen in den letzten Jahren aus Siguschs Feder dann auch die beiden Großwerke "Geschichte der Sexualwissenschaft" (2008) und - in Zusammenarbeit mit Günter Grau und namhaften Beiträgern - das "Personenlexikon des Sexualforschung" (2009) zustande, hinter dessen etwas amtlichem Titel sich die Archäologie einer Wissenschaft und ihrer oftmals vergessenen und vertriebenen Vertreter verbirgt.

Nach so viel Düsternis doch noch ein Satz, der hoffnungsvoll stimmt. Er stammt aus einer polemischen Glosse unter der Überschrift "Gibt es schwule Schafe?" Die gibt es natürlich nicht, weil man im Reich der Sinne mit Biologie und Natur nicht weit kommt - folglich gilt: "Im Grunde sind unsere Erotik und unsere Sexualität Kunstwerke". Wenn es da nur mehr Künstlerinnen und Künstler und weniger Schafe und Rinder gäbe.

VOLKMAR SIGUSCH: Auf der Suche nach der sexuellen Freiheit. Über Sexualforschung und Politik. Campus Verlag, Frankfurt 2011. 294 Seiten, 24,90 Euro.

© SZ vom 18.06.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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