Zeitgeschichte:Zweigeteiltes Leid

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Auf dem Gelände der Europäischen Zentralbank in Frankfurt stand die Großmarkthalle, von der aus die Nazis Juden deportierten. Jetzt wurde hier eine Gedenkstätte eröffnet, die nur teilweise zugänglich ist.

Von VOLKER BREIDECKER

Es ist ein deutscher, ein europäischer Erinnerungsort ohnegleichen, an dem für Juden "die Weichen in die Vernichtung gestellt wurden". Salomon Korn, der Vorsteher der Jüdischen Gemeinde Frankfurts sagt dies über die ehemalige Großmarkthalle auf dem Hochsicherheitsgelände der Europäischen Zentralbank (EZB). Es ist ein Ort des Schreckens: Das Gelände, an dessen Flanke noch heute Güterzüge auf kreischenden Rädern Richtung Osten rollen, war aufgrund seiner direkten Anbindung an das Schienennetz ein markanter Ausgangspunkt zur Vernichtung der europäischen Juden. Hervorstechend deshalb, weil das unheimliche Geschehen am helllichten Tag, inmitten des Marktgetümmels und unter den Augen Schaulustiger vor sich ging.

Seit Herbst 1941 rollten die Deportationszüge, befrachtet mit jeweils rund Tausend Menschen. Sie rollten, bis Frankfurt "judenfrei" war. Die Opfer waren entweder ohne Vorwarnung aus ihren Häusern verschleppt und durch die Stadt zum Verladeplatz getrieben worden, oder sie hatten sich nach behördlicher Anweisung zu Fuß am Sammelpunkt Großmarkthalle einzufinden. Dort wurden sie ihrer Wertsachen beraubt und bis zum Abtransport in einem eigens angemieteten großen Kellerraum zusammengepfercht. In diesem dunklen Verließ, wo sonst Gemüse gelagert wurde, mussten sie häufig noch Gewalt und Demütigungen über sich ergehen lassen.

Seitdem in Frankfurt über den neuen Standort der EZB und die Umnutzung der Großmarkthalle gestritten wurde, stand auch die Errichtung einer Gedenkstätte für die Opfer der Massendeportationen zur Debatte. Die erste förmliche Vereinbarung zwischen EZB und Jüdischer Gemeinde darüber datiert vom Dezember 2001. Gesteigerte Sicherheitsbedürfnisse waren, wenige Wochen nach 9/11, plausibel. Gleichwohl war nach Salomon Korns Erinnerung niemals von etwas anderem als von der freien Zugänglichkeit der geplanten Gedenkstätte die Rede. Das änderte sich erst, als der Neubau Grünes Licht erhielt. Von da an knickte die Stadt ein und überließ das Feld dem Bauherrn, in dessen Sprachgebrauch das Wort "öffentlich" vom Neuwort "semi-öffentlich" abgelöst wurde, bis auch davon nichts mehr übrig blieb, und die EZB heute hinter Betonmauern, Gräben und Sperrgittern den Albtraum einer hermetisch abgeriegelten "Festung Europa" geriert.

Seit 2005 war die Zugangsfrage Dauerthema aller Verhandlungen. Der in einem Wettbewerbs prämiierte und nachfolgend umgesetzte Entwurf des Architektenduos KatzKaiser hat sich der unmöglichen Aufgabe einer räumlich zweigeteilten Erinnerung gestellt. Jetzt gibt es zwei Teilensembles: das eine diesseits der Umzäunungen, nur für Besuchergruppen nach Voranmeldung, das andere frei zugänglich, aber außerhalb des EZB-Geländes gelegen.

Die Schnittstelle zwischen Innen und Außen markiert eine Panzerglasplatte. Auf öffentlichem Terrain führt zu dieser Stelle ein betonierter Weg, der die letzten Passagen markiert, die die Verschleppten auf dem Weg zum Sammelpunkt und von da zur Verladestation zurücklegen mussten. Auf der angrenzenden nicht-öffentlichen Seite wurden die Reste einer Rampe ausbetoniert. Von hier ging es hinab in den heute unverändert erhaltenen Kellerraum und am Ende wieder auf die Rampe zurück und zu den bereitstehenden Güterwaggons. Was an Fragmenten erhalten geblieben ist, haben die Architekten nach Möglichkeit markiert oder nachgezeichnet, saniert und miteinander verbunden. Die am Ort selbst verblassten Erinnerungen sind ersetzt durch an vielen Stellen in den Beton eingemeißelte Zitate von Opfern.

Und doch haftet an der am Sonntag feierlich eröffneten Gedenkstätte der Makel einer zweigeteilten Erinnerung, die zusammengehörige Wege und Orte trennt, statt sie zu verbinden. Als "Landmark" des europäischen Gedankens, als das sich die EZB selbst gerne sehen möchte, taugt ihr bauliches Ensemble wenig. Es sei denn, dieser Gedanke antizipiert ein sich einmauerndes Europa, in dem selbst Werte, auf die Europa besonders viel hält, künftig halbiert werden. Gerät Öffentlichkeit zur Halböffentlichkeit, könnte sich auch Freiheit einmal auf Halbfreiheit reduzieren.

© SZ vom 23.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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