Zeitgeschichte:Volle Kraft voraus

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Ein Streik polnischer Werftarbeiter läutete das Ende des Kommunismus ein. Das Solidaritäts-Museum in Danzig erzählt eindrucksvoll davon.

Von Klaus Brill

Sie rauchten Zigaretten der Marke "Popularne", ein ungesundes Kraut. Und an der Jacke trugen sie, wie einen Button, ein elektrotechnisches Bauteil, aus dem Drähte ragten; man nennt es opór, "Widerstand" - , wie im Deutschen hat das Wort auch im Polnischen eine doppelte Bedeutung. Es war die große Zeit der Streiks auf den Ostsee-Werften, der gepanzerten Milizfahrzeuge und der Muttergottes von Tschenstochau, deren Bild unübersehbar am Tor 2 der Danziger Lenin-Werft hing.

Gleich hinter diesem Tor steht heute ein modernes Gebäude, das an einen rostigen Schiffsrumpf erinnert. Darin wird jene Ära auf ungewöhnliche Weise wieder lebendig. Eine Stechuhr steht am Eingang einer Ausstellungshalle. An der Decke hängen gelbe Helme, und auf Bildschirmen flimmern Filme, die rasch den Eindruck vermitteln, dass es eine sehr dramatische und gefährliche Zeit gewesen sein muss.

Das Schicksal Mittel- und Osteuropas begann sich damals zu wenden. Mit ihrem Streik im Jahre 1980 erzwangen die polnischen Werftarbeiter die Zulassung der ersten freien Gewerkschaft im damals kommunistisch beherrschten Teil des Kontinents. Und wenn auch diese ruhmreiche Organisation mit dem Namen Solidarność ein Jahr später bei der Verhängung des Kriegsrechts durch General Wojciech Jaruzelski wieder verboten wurde, so stellte doch der Aufstand des Sommers 1980 eine schwere Erschütterung dar, eine Zäsur. Ihr folgte 1989 der völlige Zusammenbruch des kommunistischen Systems.

Dass die Polen für diese Zeitenwende eine Vorreiterrolle in Anspruch nehmen, ist durch den Gang der Dinge gerechtfertigt. Darum liegt es nahe, das Gehäuse, in dem die Erinnerung daran aufbewahrt und fruchtbar gemacht werden soll, in Danzig anzusiedeln, und zwar auf dem Gelände jener legendären Werft, in der am 14. August 1980 der schmächtige, aber couragierte Betriebselektriker Lech Wałęsa auf eine Mauer sprang, eine zündende Rede hielt und so zum Anführer dieses Aufstandes wurde. Nicht nur der Friedensnobelpreis, den er schon 1983 erhielt, sondern auch 32 Ehrendoktorhüte und zahllose weitere Auszeichnungen aus aller Welt belegen den hohen Rang, den die von ihm geführte Gewerkschaft "Solidarität" in der jüngeren Geschichte Europas einnimmt.

Sie hat nun einen Erinnerungsort, dem die Danziger Architektenwerkstatt Fort als Sieger eines internationalen Wettbewerbs einen maritimen Anhauch gegeben hat. Das "Europäische Solidarność-Zentrum" (ECS), das seit dem vergangenen Sommer jeden Monat über 40 000 Besucher anlockt, besteht zum großen Teil aus schräg gestellten, mit Edelrost überzogenen Stahlwänden und gibt so dem Besucher das Gefühl, er bewege sich im Inneren eines riesigen Schiffsrumpfes. Schließlich war hier eine Werft der Schauplatz der Historie. Im musealen Teil des Hauses erinnert auch die Führerkanzel eines Laufkrans daran, ebenso der durch ein Bullauge zu sehende Film über historische Stapelläufe. Doch die Arbeitswelt lässt bald der Politik den Vortritt: den Fotos und Filmen über die Versammlungen und Verhandlungen, die Blockaden und Konfrontationen, deren eindrucksvollstes Zeugnis die künstlerische Nachbildung eines vom Panzer eingedrückten Werkstores ist.

In Polen gibt es gerade einen regelrechten Boom des zeitgemäßen Museumsbaus

Ausgehend von den Danziger Streiks entfaltet sich die ganze Ära der Solidar-ność bis hin zu den Verhandlungen am runden Tisch 1989 und dem friedlichen Übergang zur Demokratie. Nicht nur Schulklassen, sondern auch Rentnergruppen und Angehörige der mittleren Generation scheinen gleichermaßen davon fasziniert zu sein. Tatsächlich ist dieses Solidaritäts-Zentrum ein weiteres Exempel dafür, wie virtuos in Polen neue Museen zu Stätten des intellektuellen Zeitvertreibs entwickelt werden. Lernen, sich informieren kann mitreißend und vergnüglich sein, wenn dazu nicht nur Bildtafeln und gelehrte Texte dienen, sondern auch Touchscreens, Audio-Installationen und authentische Objekte wie jener Kastenwagen der Miliz, in dem Verhaftete ins Gefängnis transportiert wurden. Oder die hölzerne Tafel, auf der die Werftarbeiter im August 1980 ihre 21 Forderungen aufschrieben.

Man weiß und praktiziert das auch anderswo. In Polen aber hat die neue museale Erzählkunst ein paar besonders reizvolle Schöpfungen hervorgebracht, angefangen von den historischen Museen in Krakau über das neue Warschauer Museum der Geschichte der polnischen Juden bis hin zu dieser Danziger Neuheit, die nicht nur ein Museum der Solidarność und des antikommunistischen Widerstands in ganz Mittel- und Osteuropa sein will. "Es ist auch ein Bildungs-, Forschungs- und Entwicklungszentrum, ein Archiv, eine Bibliothek und eine Digitalbibliothek", sagt Basil Kerski, der Direktor, der mehr als 140 Mitarbeiter zur Seite hat. "Es ist ferner öffentlicher Raum und Treffpunkt für Bürger, die sich für die Entwicklung der Demokratie verantwortlich fühlen." Sogar ein Wintergarten ist vorhanden, und Kerski spricht auch von "einem Danziger Centre Pompidou" und "einer mitteleuropäischen Agora".

Nach seiner Vorstellung soll die Beschäftigung mit der Geschichte kein Selbst-zweck, sondern Anreiz für aktives Bürgerengagement sein. "Wir können aus der Erfahrung des August 1980 immer noch soziale Energie generieren", sagt er. Deshalb steht im ECS eine ganze Etage Vereinigungen und Organisationen zur Verfügung, die sich mit Aufbau und Festigung der Demokratie und der Bürgergesellschaft befassen und dazu Workshops abhalten. Außerdem fanden schon in den vergangenen Jahren und finden auch in Zukunft Hunderte Konferenzen, Konzerte und Filmvorführungen statt, dazu besondere Projekte für Kinder. Stets geht es im weitesten Sinne um das, was als die bleibende Botschaft der Solidarność aufgefasst wird: dass erstens durch Solidarität das Unmögliche möglich werden kann und zweitens die Kultur des Dialogs und des Kompromisses, wie sie sich 1989 bei der unblutigen Revolution in Polen herausbildete, ein demokratisches Wesenselement ist, das die Gegensätze zwischen Menschen versöhnen kann, und zwar weltweit.

Das Erbe des unblutigen Freiheitskampfes soll überall die Demokratie beflügeln

Paweł Adamowicz, der langjährige Danziger Oberbürgermeister, empfindet gerade diese ideelle Hinterlassenschaft als ein besonders kostbares Erbe, das seine Stadt zu pflegen habe. Für ihn steht die Wende von 1989 in der Tradition von 1789, also des sozialen Freiheitskampfes der französischen Revolution. Was damals der Freiheit und der Gleichheit als drittes gesellschaftliches Basiselement zugeordnet wurde, nämlich die Brüderlichkeit, "das nennen wir Solidarność", sagt der liberal-konservative Politiker, ohne dessen Energie und Beharrlichkeit das Solidaritätszentrum wohl kaum entstanden wäre. Nach seiner Meinung hat für die heutige EU der Kampf der Völker Mittelosteuropas gegen den Totalitarismus den gleichen Rang wie etwa die deutsch-französische Versöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg.

Danzig, die alte Hansestadt mit ihrer für Mittelosteuropa so typischen multikulturellen Vergangenheit, versteht sich auch heute wieder als weltzugewandte Metropole und macht sich in diesem Geiste weiter attraktiv. Unweit der Werft und des ECS entsteht derzeit auch ein Museum des Zweiten Weltkriegs - fiel doch der erste Schuss am 1. September 1939 auf der Danziger Westerplatte, schon einen Tag später wurde im nahegelegenen Stutthof ein deutsches Konzentrationslager eingerichtet, Polen aus Danzig waren die ersten Insassen. Noch ist das Ganze nur eine Baustelle, im Internet ist freilich schon zu sehen, dass hier wiederum ein kühner Entwurf zugrunde liegt, sowohl für die Baulichkeiten als auch für die geplante Ausstellung (www.muzeum1939.pl). Aufsehen erregt auch das im September eröffnete neue Shakespeare-Theater, eine Zwingburg aus schwarzem Klinkerstein, die von außen wie eine Brandwache wirkt, im Inneren aber mit hellem Holz ausgestaltet ist.

Schließlich schmückt sich Danzig auch mit seinem - neben Lech Wałęsa - zwei-ten lebenden Nobelpreisträger: Günter Grass. Sein weltberühmter Danzig-Roman "Die Blechtrommel" hat längst im Stadtbild Gestalt angenommen in Form einer Oskar-Skulptur im heimatlichen Stadtteil Langfuhr (Wrzeszcz), auch andere Grass-Orte sind markiert. Nach Grass ist ferner eine Filiale der Städtischen Galerie benannt, in der auch Zeichnungen des Ehrenbürgers hängen, und vor der Tür steht neuerdings eine mächtige Skulptur aus des Meisters Hand - zwei Hände umfassen den "gefangenen Butt". Bei einem Günter-Grass-Festival hat man ihm jüngst sogar ein Computerspiel ("Grassowka") gewidmet, das den Spuren seiner Werke folgt. Der so Geehrte hat übrigens beim jüngsten Heimat-Besuch auch das Europäische Solidarność-Zentrum besucht. Es hat ihm, wie verlautet, gut gefallen.

© SZ vom 02.01.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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