Zeitgeschichte:Unter interessanten Menschen

Lesezeit: 4 min

Für die Beurteilung der SS-Vergangenheit des Romanisten Hans Robert Jauß fehlten bislang die Quellen. Nun hat der Historiker Jens Westemeier eine umfassende Studie über die Causa Jauß vorgelegt.

Von Volker Breidecker

Zu den Legenden der Nachkriegszeit gehört das Narrativ von der Waffen-SS als einer Armee wie jede andere auch. Zwar wurde die Waffen-SS bei den Nürnberger Prozessen zur "verbrecherischen Organisation" erklärt, doch waren die alten Seilschaften schon bald wieder so gefestigt, dass die Mythen, welche die Waffenbrüder selbst in die Welt setzten, bis heute nicht ganz ausgeräumt sind. "Auch 70 Jahre nach Kriegsende steht eine umfassende Verbrechensgeschichte der Waffen-SS aus", lautet der Befund des bereits durch eine Pionierarbeit über Himmlers Adjutanten Joachim Peiper ("Himmlers Krieger", 2014) ausgewiesenen Historikers Jens Westemeier am Ende seiner Studie über das Vorleben des bedeutenden Romanisten und Begründers der Rezeptionsästhetik Hans Robert Jauß (1921 - 1997).

Obgleich Jauß sich selbst nie in den organisierten Klüngeln der SS-Veteranen engagierte, konnte er seine eigene Biografie unter der Legende wie unter einem Schutzschild verbergen. Die Namen und Taten in Nürnberg zum Tode verurteilter Massenmörder aus den Reihen der Waffen-SS gerieten nach ihrer Begnadigung, vorzeitigen Freilassung und Wiedereingliederung in ein bürgerliches Dasein bald in Vergessenheit und beschäftigten nur noch die Historiker. Der letzte der in Landsberg einsitzenden Kriegsverbrecher, SS-Standartenführer Dr. jur. Martin Sandberger, starb vor wenigen Jahren im Alter von 99 Jahren im vornehmen Stuttgarter Stift Collegium Augustinum. Seine Freilassung und Rehabilitierung im Jahr 1956 verdankte Sandberger Fürsprechern aus der bundesrepublikanischen Nachkriegselite.

Der Fall ist geeignet, die letzten Mythen um die Waffen-SS ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen

Dem weit minder schweren Fall des vormaligen SS-Hauptsturmführers Hans Robert Jauß, über den seit rund zwei Jahrzehnten im Inland und - länger schon - im Ausland leidenschaftlich debattiert wird ( SZ vom 16. Juni), kommt eine mittlerweile exemplarische Bedeutung zu, ähnlich dem Fall von Günter Grass, der sich allerdings erst kurz vor Kriegende und als Rekrut zur Waffen-SS gemeldet hatte. Exemplarisch ist die Causa Jauß nicht allein des beharrlichen Verschweigens wegen und - nach Bekanntwerden - der Bagatellisierung mit den üblichen Ausflüchten, sondern weil der Fall geeignet ist, die letzten Legenden und Mythen um die Waffen-SS ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen.

Das beginnt schon beim Namen der Truppe, die seit 1940 "Waffen-SS" hieß. Die Einheit zu der sich der dem NS-Staat bereits als HJ-Führer treu ergebene, hochpolitisierte Abiturient bei Kriegsausbruch freiwillig gemeldet hatte, war eine sogenannte "SS-Verfügungstruppe". Das klingt so harmlos wie der Name eines Reserveheers, bedeutete aber etwas ganz anderes, nämlich (gemäß Führererlass vom August 1938) "eine politische (!) Gliederung der NSDAP", die in Abgrenzung von der Wehrmacht im Inland wie im Ausland zu Hitlers "ausschließlicher Verfügung" einsetzbar war. Damit fällt schon das von Jauß zu seiner Entlastung vorgebrachte Argument, ein Frontsoldat gewesen sein, der von Kriegsverbrechen hinter den Linien rein gar nichts mitbekommen habe.

Auch da leistet Westemeier Pionierarbeit. Er hat die häufig umgruppierten Einheiten an ebenso häufig wechselnden Einsatzorten rekonstruiert, ist selbst hingereist, hat in Dorf- und Familienarchiven recherchiert. Vom Westen bis nach Osten zieht sich die Spur von Kriegsverbrechen, an denen Truppenteile beteiligt waren, denen der Blitzkarrierist Jauß angehörte: Neben der SS-Standarte "Deutschland" waren dies niederländische und französische Freiwilligen-Legionen. In ihnen dienten vorwiegend fanatische Rechtsextremisten. Daher rührt, wie Westemeier anhand der apologetischen Literatur französischer Kollaborateure belegen kann, dass in diesen Kreisen der SS-Führer "Jauss" schon seit den Sechzigerjahren gerühmt wird.

Der vermeintliche "Frontsoldat" Jauß durchlief zunächst als Lernender, später als Lehrender mehrere Junkerschulen, deren Ausbildungsschwerpunkt die weltanschauliche Schulung war. Dazu zählten die Rassenlehre und das Einschwören der Verbände auf den "Kreuzzug gegen den Bolschewismus", was in der ideologischen wie praktischen Kriegsführung ein Synonym für die Vernichtung des Judentums war. Jauß ist nach Quellenlage keine persönliche Beteiligung an Kriegsverbrechen nachzuweisen. Allerdings hat Westemeier kroatische Einsatzorte erforscht, die in Jauß' spärlichen Erzählungen nie vorkamen. Dort war sein Bataillon und auch die von ihm befehligte Kompanie im Partisanenkrieg nachweislich an Übergriffen und Verbrechen gegenüber der Zivilbevölkerung beteiligt. Nach neuerer Rechtsprechung ist Jauß im Sinne funktioneller Mittäterschaft daher durchaus als Kriegsverbrecher anzusehen.

Hans Robert Jauß hat großen Wert darauf gelegt, dass aus der NS-Ära keine einzige Zeile aus seiner Feder überliefert ist. Das betrifft nicht nur die Aufenthalte an Junkerschulen, die Jauß zum Beispiel 1944 in Prag mit Universitätsbesuchen in Uniform verband, sondern auch eine gespenstisch anmutende, volle zwei Jahre währende Episode, die der zunächst untergetauchte, dann streckbrieflich gesuchte und schließlich - von Ende 1945 bis Anfang 1948 - in Recklinghausen internierte SS-Führer Jauß im intimen Kreise alter Nazis verbrachte. Darunter waren auch belastete Hochschullehrer und andere Intellektuelle bis hin zu ehemaligen Einsatzgruppenleitern aus dem Osten. Einem Schulfreund schrieb Jauß Anfang 1946, er sei "mit interessanten Menschen zusammen (. . .) Wir gehören zu den Menschen, denen alles Schicksal zum Guten wird". Die Teilhaber dieser höheren SS-Schicksalsgemeinschaft gründeten eine "Camp-School", an der in einer Art Studium Generale Vorlesungen und Kurse abgehalten wurden. Als Jauß sich 1948 in Heidelberg immatrikulierte, wurden ihm dafür tatsächlich zwei Semester angerechnet.

Zumindest bis dahin hatte sich am Selbstverständnis des Weltanschauungskriegers noch nichts geändert. Noch im November 1945 versuchte Jauß, sich den Alliierten für den "Kampf gegen den Bolschewismus" anzudienen: Sein Eintritt in die SS, so sagte er im Spruchkammerverfahren aus, sei "von der selbstverständlichen Pflicht" geleitet gewesen, "unsere eigene wie auch die europäische Kultur gegen die Bedrohung des Bolschewismus zu verteidigen."

Allem Anschein nach muss sich Jauß zu einem späteren Zeitpunkt selbst entnazifiziert haben, vermutlich ohne wirkliche Katharsis, dafür in einem Akt der Selbstexkulpation. Was er im Rückblick öffentlich, halböffentlich und im privaten Briefverkehr - etwa mit dem Historiker Arno Borst oder dem Publizisten Henning Ritter - preisgibt, ist durchweg geschönt und entspricht weder dem, was Jauß gleichzeitig einem zwei Jahre vor seinem Tod begonnenen Tagebuch anvertraute, noch dem, was er dafür aus früheren, ihn belastenden Aufzeichnungen und Feldpostbriefen collagierte - vielleicht auch zensierte -, bevor er die Originale im Garten seines Konstanzer Hauses verbrannte. "Rezeptionsgeschichten", schrieb Jauß einmal, "können nur abgebrochen, nicht abgeschlossen werden."

Jens Westemeier: Hans Robert Jauß. Jugend, Krieg und Internierung. Konstanz University Press, Konstanz 2016. 367 Seiten, 29,90 Euro.

© SZ vom 20.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: