Zeitgenössische Musik:Von Afrika bis Zwölftonmusik

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Der schwedisch-israelische Musiker Dror Feiler eröffnet 2008 die Donaueschinger Musiktage. (Foto: Rolf Haid/dpa)

Akustik, Montage, Polystilistik, Zufall: Das "Lexikon Neue Musik" erschließt neue Klänge.

Von Wolfgang Schreiber

Massive Probleme beim Hören moderner Klassikmusik, dementsprechend Reflexe der Abwehr gegen das Neue, Sperrige, scheinen naturgegeben zu sein. Die meisten Zuhörer klassischer Musik empfinden, nein, erdulden die Moderne und Avantgarde des 20. und 21. Jahrhunderts als ein dornenreiches Feld schwer einzuordnender Klänge. Gründliche Information tut not. Darf es ein "Lexikon" sein? Der Begriff im Buchtitel weckt hier freilich falsche Erwartungen. Wer auf den fast 700 Seiten Aufhellung im Wörterbuch-Modus sucht, ein Verzeichnis der Musikmoderne als rasche Hörhilfe, wird enttäuscht sein. Aber die so scharfsinnigen wie ausführlichen, lexikalisch geordneten Texte können sehr wohl zu einer umfassenderen Art des Verstehens der neuen Musik und ihrer Herkunft und Entwicklung führen. Das Lexikon als ein lehrreiches Handbuch.

Traditionen werden fortgeführt, verfeinert, aber auch durchbrochen und umgekehrt

"Die neue Musik nach 1945 in ihrer Gesamtheit darf man zweifelsohne als besonders facettenreich und unübersichtlich bezeichnen", so geben einleitend die Herausgeber Jörn Peter Hiekel und Christian Utz, nur scheinbar verzagt, zu bedenken - und feuern dann Breitseiten der Aufklärung. Tatsächlich sind die historischen und ästhetischen, die philosophischen und materialhaften Phänomene der musikalischen Moderne und Avantgarde in ihrer Komplexität nicht leicht zu durchschauen.

Deshalb folgen zunächst, vor dem lexikalischen Teil der Sachbegriffe, neun Abhandlungen zu "Themen". In ihnen werden die Wege, Entwicklungen, Grenzüberschreitungen im weiten Feld des musikalisch Zeitgenössischen erfahrbar. Hörprobleme sind Verstehensprobleme, denn "zur Moderne gehört ... eine Tendenz zur Reflexivität" ebenso wie die Tatsache einer nicht leicht fassbaren "polyphonen Vielstimmigkeit".

Erklärt in sprachlicher Dichte und Präzision wird die "Neukonzeption" der Musik, die sich ab 1950 zentral bei den "Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik" Bahn brach. Komponisten wie Karlheinz Stockhausen, Pierre Boulez und Luigi Nono erwiesen sich in Darmstadt (und bei den Donaueschinger Musiktagen) als die innovativsten Köpfe, später wurde John Cage dort zum kreativen Störenfried. Und Theodor W. Adorno befeuerte die Diskurse. Das alles vor dem Hintergrund der für die Moderne nach dem Weltkrieg richtungweisenden Zweiten Wiener Schule Arnold Schönbergs und seines Schülers Anton Webern.

Zumal Webern legte mit seiner radikal verdichteten "Reihentechnik" die Basis für das neue serielle Komponieren der Jungen. "Mit ihrem strukturorientierten kompositorischen Ansatz" habe diese Avantgarde "den Grundstein für die Arbeit nachfolgender Generationen bis heute" gelegt.

Die musikalische Moderne umfasst mehr als nur die Errungenschaften der europäischen Nachkriegsentwicklung. Das Spektrum der hier historisch und systematisch aufgefächerten Themen enthält auch Aspekte der amerikanischen Musikgeschichte oder "transnationaler Tendenzen" sowie einer neuen "Weltbezogenheit" der neuen Musik. Ins Blickfeld rücken Phänomene wie Raumkomposition, "Klangorganisation" oder auch geistliche, spirituelle und religiöse Perspektiven neuer Musik nach 1945. Die Mikrotonalität und das "spektrale" Komponieren gehören zu den neuesten Entwicklungen, zu denen auch "ästhetische Pragmatiken analoger und digitaler Musikgestaltung" der Gegenwart zählen. Diese Themenkapitel, durchaus nicht schnell oder leicht zu lesen, bieten auch reichhaltige Literaturangaben.

Und dann geht es richtig los mit den Sacherkundungen im zweiten Teil des Lexikons, mit rund 150 Artikeln auf 500 Seiten. Das reicht von Afrika und der Akustik bis zum Zufall und der Zwölftonmusik. Plausibel wird etwa, wie mannigfaltig, bunt und intensiv die neue Musik und ihre Komponisten sich von den Nachbarkünsten beeinflussen ließen und lassen, von der Literatur und den bildenden Künsten, Tanz und Architektur, von Film/Video und elektronischer Klangtechnologie. Das Internet und die Medienvielfalt gehören dazu. Alles weist auf die vielen Möglichkeiten einer musikalischen Moderne, "die einerseits die Traditionen bereits existierender kompositorischer Ansätze fortschreiben oder verfeinern können, die aber andererseits diese oft auch brechen, unterlaufen, umkehren oder kommentieren".

Die komplexen Verästelungen der neuen Musik nach 1945 werden nachvollziehbar anhand von Begriffen wie Form und Fragment, Geräusch, informelle und konzeptuelle Musik, wie Montage, Multimedia, Musique spectrale oder Performance, Pop/Rock, Popularität, Live-Elektronik, Gender oder Polystilistik. Den Herausgebern des Lexikons gelingt es, die Prozesse des musikalisch Neuen ausführlich, thematisch grenzüberschreitend zu vermitteln. Länderartikel weiten den Blick auf den globalisierten Stand der neuen Musik - mit musikalisch so ergiebigen Porträts zu Israel, Indien, Iran oder Türkei, Nordamerika, Japan oder China. Gute Aussichten für die musikalische Moderne? Mit solchem Lexikon als Kompendium der schwierigen, verwirrend mannigfaltigen neuen Musik könnten jedenfalls die Abwehrkräfte gegen musikalische Unwissenheit einige Stärkung erfahren.

Jörn Peter Hiekel / Christian Utz (Hrsg.) : Lexikon Neue Musik. Verlag J. B. Metzler-Bärenreiter, Stuttgart und Kassel 2016. 703 Seiten, 128 Euro. E-Book 99,99 Euro.

© SZ vom 26.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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