Zeitdiagnostik:Schattenbox-Kabinettstückchen

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Mit dem Band "On Bullshit" wurde Harry G. Frankfurt berühmt. Jetzt mischt sich der amerikanische Stardenker mit "Ungleichheit" in die Tagespolitik ein.

Von Jens Christian Rabe

Dieses kleine Buch über das große Thema Ungleichheit ist ein so interessantes wie tückisches Buch. Man kann an ihm sehr gut sehen, was passiert, wenn sich Philosophen ins politisch-soziologische Kommentar-Tagesgeschäft tatsächlich philosophisch einmischen, und nicht bloß - wie im Normalfall - als ideengeschichtlich kundigere und bestenfalls etwas nachdenklichere Quasi-Journalisten. Weder Philosophie noch Politik sehen danach allerdings unbedingt besser aus.

Autor ist der 86-jährige amerikanische Philosoph und Philosophie-Professor Harry G. Frankfurt, der als Descartes-Interpret und mit Arbeiten zur Willensfreiheit in seinem Fach bekannt und 2005 mit einem kleinen Band namens "On Bullshit" auch noch weltberühmt wurde. Der neue kleine Frankfurt "Ungleichheit - Warum wir nicht alle gleich viel haben müssen", sind - streng genommen - zwei alte Essays: "Ökonomische Gleichheit als moralisches Ideal" aus dem 1987 und "Gleichheit und Achtung" aus dem Jahr 1997. Das Thema ist natürlich so aktuell und viel diskutiert wie lange nicht. Worauf Frankfurt in seinem neuen Buch jedoch hinausmöchte,

ist keine nüchterne politiktheoretische Diskussion darüber, wie viel ökonomische Ungleichheit die Demokratie verträgt. Er möchte vielmehr über die - seiner Ansicht nach offenbar epidemische - unzulässige Moralisierung des Themas Ungleichheit sprechen, also die voreilige Bewertung von Tatsachen als gut oder böse. Zügig steuert er deshalb auf die These zu, dass "ökonomische Ungleichheit als solche moralisch nicht verwerflich" sei.

Ökonomische Ungleichheit als solche ist moralisch keineswegs verwerflich

Das ist nicht falsch. Und dass hier in wenigen Sätzen eine in ihrem Kern eher "harte" zeitgenössische Debatte in eine rein moralische umgedeutet wird, wäre hinzunehmen, wenn man nun wenigstens ein paar prominente, notorisch unverbesserliche moraline Egalitaristen vorgeführt bekäme und ihre die Diskussion prägenden Einlassungen, in denen sie die Ungleichheit als an sich moralisch falsch brandmarken. Das ist aber nicht wirklich der Fall.

Einzig in ein paar Fußnoten geht es gegen Einlassungen von politischen Philosophen wie Thomas Nagel oder Ronald Dworkin. Deren Ansichten lassen sich allerdings nur unter Schmerzen als glasklare Plädoyers für die Gleichheit als Wert an sich lesen. Tatsächlich wissen auch sie ganz genau, dass reine Wahrheiten in sozialen Zusammenhängen sehr, sehr, sehr rar sind, was man ja nicht zuletzt daran erkennen kann, dass es vieler Kämpfe bedurfte, bis sich politische Leitwerte wie die Gleichheit dauerhaft etablierten.

Man ist damit aber immerhin dort, wo mit Frankfurts Argumentation steht und fällt: beim "An sich". Man muss ihm also glauben, dass seine Gegner allesamt so dumm sind, die Ungleichheit "an sich" für problematisch zu halten - und nicht etwa vor allem ihre unseligen Folgen, etwa ein krasses Machtungleichgewicht, Wettbewerbsvorteile, Armut. Diese Folgen findet jedoch auch Frankfurt nicht gut: "Aus moralischer Perspektive ist es nicht wichtig, dass jeder dasselbe hat. Was moralisch zählt, ist, dass jeder genug hat."

Was aber nun bei der Lektüre solcher Einlassungen zählt, ist, dass wir es mit etwas zu tun haben, das man vielleicht philosophische Schattenboxerei nennen kann, den Kampf mit einem Gegner, den es gar nicht gibt, bei dem man sich aber irre clever vorkommt. Es ist eine echte Unsitte der laufenden - und grundsätzlich begrüßenswerten - Popularisierung der Philosophie, dass die jeweiligen Gegner zu Pappkameraden, statt so stark wie möglich gemacht werden. Der umtriebige junge deutsche Philosoph Markus Gabriel etwa geht in seinem "Neuen Realismus" gegen die alten konstruktivistischen Theoretiker der Postmoderne leider ganz ähnlich vor.

Völlig absurd wird es bei Frankfurt dann, wenn er sich auch noch dazu versteigt, den schlichten Genug-für-alle-Gedanken zum "Suffizienzprinzip" zu nobilitieren. Und ökonomische Gleichheit am Ende in dem Fall doch wieder moralisch für wichtig zu halten, in dem sie Ausdruck der persönlichen "Achtung" des Einzelnen ist, die wiederum das allgemeine Unparteilichkeitsgebot fordere. Als ob es nicht genau das ist, worum es den bösen Egalitaristen geht. Mit dieser Art von neunmalklugem Gratis-Antimoralismus macht sich Philosophie lächerlich.

Die redliche und nötige Arbeit am Begriff gerät zu selbstgerechter Begriffshuberei, wenn man den Gegner dümmer macht, als er ist. Es mag den einen oder anderen strammen Moralisten geben unter den Freunden der Gleichheit. An der Debatte aber waren und sind ein paar zu viele Ökonomen beteiligt, die des blinden Moralismus eher unverdächtig sind. Der Präsident des deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Marcel Fratzscher etwa bemerkt in seinem neuen Buch "Verteilungskampf - Warum Deutschland immer ungleicher wird": "Aus ökonomischer Perspektive ist Ungleichheit in Einkommen oder Vermögen erst einmal weder gut noch schlecht."

Nicht verschwiegen sei allerdings auch, dass das Büchlein - wie so viele philosophische Bücher - in seiner Kritik an herrschendem Denken stärker ist als bei seinen konstruktiven Einlassungen. Frankfurts Einwände etwa gegen das in der linken Wirtschaftswissenschaft geschätzte "Gesetz des abnehmenden Grenznutzens", nach dem die gleiche Verteilung von Geld einen höheren gesamtgesellschaftlichen Nutzen hat als eine ungleiche, ist schlagend: Manche Menschen könnten schließlich aus vollerem Herzen genießen als andere. Zudem sei Geld als Tauschmittel "grenzenlos vielseitig", weshalb sich aus der Tatsache, dass der moderne Mensch dazu neige, das Interesse an dem zu verlieren, was er konsumiert, eben nicht schließen lasse, dass er irgendwann zwangsläufig auch das Interesse am Konsum selbst verliert. Und sehr gewitzt ist Frankfurts Formulierung der Antwort auf die Frage, was es nun heißt, dass jemand genug hat: Er befinde sich dann in Umständen, "unter denen mehr Geld ihn nicht in die Lage versetzen wird, erheblich weniger unglücklich zu sein".

Harry G. Frankfurt: Ungleichheit: Warum wir nicht alle gleich viel haben müssen. Aus dem Englischen von Michael Adrian. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 109 Seiten, 10 Euro. E-Book 9,99 Euro. (Foto: Suhrkamp)

Womit man dann direkt beim Unschmeichelhaften des Büchleins für die Politik wäre: Der ewige materielle Vergleich bringt die oft so verhängnisvolle psychosoziale Dynamik des Kapitalismus erst in Gang: den ewigen Durst nach mehr. Zufriedenheit, also das Nicht-mehr-Wollen-als-man-eben-hat kann unter bestimmten Bedingungen ein fast subversiver Akt sein.

Genau hier, bei Frankfurts Rat, die eigenen Lebensumstände nicht mit denen anderer zu vergleichen, sondern sich zu fragen, ob einen das eigene Leben glücklich und zufrieden macht, gibt es aber auch wieder ein Problem für die Philosophie. Sie ist plötzlich ideologisch ambivalent bis zynisch: "Wenn es einem schlechter geht als anderen, heißt das nicht unbedingt, dass es einem schlecht geht." Es gebe immerhin, so Frankfurt, "keine notwendige Verbindung zwischen einem Leben am unteren Rand der Gesellschaft und einem Leben in einer Form von Armut, die einen Menschen ernstlich und auf moralisch verwerfliche Weise daran hindere", ein gutes Leben zu führen.

Tatsächlich ist der ewige Vergleich und der damit verbundene pauschale Drang zu schlichter Gleichheit bestimmt kein allzu gutes Rezept für individuelles Glück. Er kann Menschen durchaus davon ablenken, "sich über ihre authentischen Ambitionen klar zu werden, nämlich jene, die sich dem spezifischen Charakter ihres eigenen Lebens verdanken, und nicht jene, die ihnen von den Umständen aufgedrängt werden, in denen andere zufälligerweise leben". Aber ein politisches Problem so einfach zu einem privaten zu machen ist schon allein deshalb schwierig, weil damit statt des kritischen Beobachters plötzlich der duldsame Untertan zum idealen Bürger wird. Denn damit ist man wirklich geradewegs auf der dunklen Seite des amerikanischen Traums, nach dem es ja jeder vom Tellerwäscher zum Millionär bringen können soll, der es nur ernsthaft genug versucht. Wer das glaubt, der glaubt später, wenn der Plan nicht aufging, auch brav, dass er es einfach nur nicht hart genug versucht hat. Und die Politik ist fein raus.

Am Ende muss man deshalb leider sagen, dass Frankfurt mit dem neuen Bändchen seiner eigenen Definition von Bullshit gefährlich nahekommt. Altes Problem übrigens der sogenannten analytischen angelsächsischen Philosophie: Es wird so getan, als werde extrem scharf gedacht, aber dann wird doch recht wenig wirklich erkannt. Man kann etwas sagen, das nicht ganz falsch ist, und trotzdem ziemlich danebenliegen.

© SZ vom 27.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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