Vor einiger Zeit bot sich Wladislaw Golobanow, einem Geschichtslehrer der Mittelschule Nummer 33 in Jakutien, die Gelegenheit, mit seinem Präsidenten zu sprechen. Wladimir Putin hatte eine Gruppe von Lehrern humanistischer Fächer in seine Villa nach Nowo-Ogarjowo eingeladen. Geschichte sei, sagte Golobanow bei dieser Gelegenheit, für ihn ein "lebendiges und blühendes Reservat", in welchem die Nation alles finden könne, was sie zur Gesundung und zur Einigung brauche. "Für mich ist unsere Geschichte, mit und gerade wegen aller ihrer Schwierigkeiten, immer erfolgreich", sprach er. Der "Faktor Erfolg" sei bei der Unterweisung der jungen Menschen besonders wichtig, denn Kinder wollten nun mal zur Siegermannschaft gehören.
Der Pädagoge aus Russlands Norden hat damit womöglich unbeabsichtigt die Geschichtspolitik Putins zusammengefasst - und den Präsidenten zu weiteren Fingerzeigen inspiriert. Es habe "problematische Seiten" in der russischen Geschichte gegeben, räumte Putin ein, etwa die "Ereignisse, die 1937 begannen". Das dürfe zwar nicht vergessen werden, doch andere Länder, so Putin, haben eine noch viel dunklere Vergangenheit. "Wir haben keine Atombomben gegen Zivilisten eingesetzt. Wir haben nicht mehrere tausend Quadratkilometer mit Chemikalien besprüht und haben nicht auf ein kleines Land wie Vietnam sieben Mal so viele Bomben abgeworfen wie im ganzen Zweiten Weltkrieg. Es gab auch andere dunkle Seiten nicht, etwa den Nazismus." Putins Geschichtsstunde gipfelte in den Appell, nicht zuzulassen, "dass uns ein Schuldgefühl aufgezwungen wird".
Das Auftreten als Hüter der sowjetischen Geschichte ist zu einem wesentlichen Merkmal der Präsidentschaft Wladimir Putins geworden. Symbolhaft dafür ist die Rückkehr zu den Noten der sowjetischen Hymne und die alljährlichen im Stil der Breschnew-Ära gehaltenen Feiern zum Tag des Sieges über Nazi-Deutschland im Großen Vaterländischen Krieg. Die Russen sollen sich, um es mit Lehrer Golobanow zu sagen, als Teil einer Gewinnermannschaft verstehen - und viele von ihnen tun es. Nach der Phase der Depression und des Zweifels sind die Russen mittlerweile in großer Zahl wieder zur Überzeugung gelangt, Angehörige einer nicht nur großen, sondern auch großartigen Nation zu sein. Das hat mit dem wirtschaftlichen Erstarken zu tun, gewiss aber auch mit der Art, wie Putins Russland den Blick zurück pflegt. Im "blühenden Reservat" ihrer Geschichte pilgern die Russen in die Sowjetunion wie zu einem Gesundbrunnen. Vor dem Gift aus dieser Quelle warnen nur noch ein paar Unverbesserliche.
Putins Behauptung, Russlands Geschichte weise nicht im Übermaß dunkle Seiten auf, wird daher nur von einer kleinen Minderheit im Land als Lüge erkannt. Allein im Terror der Jahre 1937/ 38, den Putin harmlos-neutral "Ereignisse" nannte, hat Josef Stalin mindestens 700000 Menschen hinrichten lassen. Insgesamt 1,7 Millionen Menschen wurden aufgrund politischer Anklagen verhaftet. Von der "Renaissance der Normen des mittelalterlichen Inquisitionsprozesses im 20. Jahrhundert" spricht die Menschenrechtsorganisation Memorial.
Vor genau 70 Jahren hatte dieser Große Terror begonnen, doch in Russland, das sonst von Jahrestagen geradezu besessen ist, bietet das keinen Anlass zu Gedenkfeierlichkeiten. Der Terror wirke bis heute nach, beklagt Memorial in einem Thesenpapier und führt viele Belege an - von der "Empfindung der Nichtigkeit des menschlichen Lebens und der Freiheit" bis zu intellektuellem Konformismus und hemmungslosem Zynismus. Die Organisation stellte Forderungen auf, die aus der Perspektive des heutigen Russland unerhört erscheinen: Geschichtsbücher, die den Großen Terror angemessen behandeln, ein nationales Museum zur Geschichte des Staatsterrors und ein nationales Denkmal für die Ermordeten.
Der Massenmörder bleibt vergessen
Im Bewusstsein der meisten Russen ist für Stalin indes ein Platz als siegreicher Feldherr im Krieg gegen Nazi-Deutschland reserviert. Stalin, der Massenmörder, bleibt vergessen. Einer Umfrage des Lewada-Zentrums zufolge verbinden 37Prozent der Russen mit dem Namen Boris Jelzin Unbehagen und Verärgerung, 18 Prozent gar Hass und Abwehr. Stalin hassen nur fünf Prozent. 18 Prozent gaben in der Umfrage an, ihm gegenüber Unbehagen und Verärgerung zu empfinden. Immerhin 15 Prozent nannten Angst. Weit größer ist die Zahl der Anhänger Stalins: 36 Prozent beschreiben ihre Gefühle mit Worten wie Hochachtung, Verehrung und Sympathie.
Die Identifikation großer Teile der Bevölkerung mit dem Verbrecher Stalin trägt absurde Züge; schließlich waren die meisten Opfer Stalins Russen. Typisch ist die Familiengeschichte des letzten sowjetischen Staatschefs Michail Gorbatschow. Wegen Nichterfüllung des Saatplans wurde einer seiner Großväter nach Sibirien verbannt, der andere als angeblicher Abweichler schwer gefoltert. Es ist wahr, dass fast jede russische Familie Opfer des Krieges zu beklagen hat. Das gilt aber ebenso für den Stalinismus. Beim russischen Geheimdienst FSB lagern Millionen Dokumente, die darüber Zeugnis ablegen. Der Zugang aber ist schwierig. Öffentliche Debatten ähnlich jener, wie sie durch Stasi-Unterlagen in Deutschland ausgelöst wurden, deuten sich bisher nicht an.
Die Verleugnung oder Verharmlosung des Stalinismus bremst nicht nur, wie Memorial zu Recht beklagt, die innere Entwicklung Russlands. Russland wird dadurch auch zum schlechten Nachbarn. Das hat besonders der Denkmalstreit mit Estland gezeigt. Die Verlegung des bronzenen Soldaten in Tallinn führte zu einem Disput, den Russland vom Standpunkt eines rein sowjetischen Geschichtsverständnisses aus führte. Das den Esten durch den Molotow-Ribbentrop-Pakt und durch stalinistische Verbrechen zugefügte Leid wird von Russlands Führung vollständig ignoriert.
Russland erwartet für die "Befreiung vom Faschismus" Dankbarkeit, weist gleichzeitig aber jedes Schuldgefühl wegen des verbrecherischen Stalinismus zurück. Vermutlich aus persönlichen Gründen hat Putin gerade den Streit mit Estland zu seiner Sache gemacht. Putins Vater war während des Krieges im Auftrag des NKWD in Estland an Sabotageaktionen gegen die Deutschen beteiligt, dann aber von Esten verraten worden. Einer estnischen Journalistin hatte Putin einmal allen Ernstes erklärt, Estland könne 1945 gar nicht von der Sowjetunion besetzt worden sein, weil das Land schon 1939 der Sowjetunion beigetreten war. Damals fügte er hinzu: "Ich mag nicht gut studiert haben, weil ich in der Freizeit viel Bier trank. Aber einiges ist mir noch in Erinnerung. Wir hatten gute Lehrer."