William Forsythe 70:Die Vermessung der Tanzwelt

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Jung geblieben - und radikal zeitgenössisch: Der amerikanische Choreograf William Forsythe. (Foto: AFP)

Stilsicherer Revolutionär: Der Choreograf William Forsythe, einst Ballettchef in Frankfurt, feiert seinen 70. Geburtstag. Er prägte die Tanzästhetik des 21. Jahrhunderts.

Von Dorion Weickmann

Ein schmissiger Abend, ein Ensemble in Superform - und im letzten Augenblick hechtet der Stargast auf die Bühne. Paar Schrittchen nach links, paar Schrittchen nach rechts, mehr braucht der Mann nicht zu tun, um Londons Tanzhaus Sadler's Wells zu verzücken. Dass er 2018 schon fast ein halbes Jahrhundert im Geschäft ist, sieht man ihm nicht an: Kaum Falten, agil wie ein Mittdreißiger, neugierig und wach - der Choreograf William Forsythe scheint ewige Jugend gepachtet zu haben. Die zwölf Tänzer des English National Ballet, denen er das Hip-Hop-poppige Stück "Playlist (1,2)" verehrt hat, fliegen vielleicht ein bisschen höher, weiter, schneller als er selbst. Aber dafür hat er den Groove und den Move des Weltkünstlers im Blut. Forsythe, der Revolutionär, hat das Traditionsballett geschleift und dessen Fragmente in radikal zeitgenössischen Körperarchitekturen verbaut. Seit den Achtzigerjahren hat er der Tanzästhetik des 21. Jahrhunderts den Weg geebnet, von Frankfurt am Main aus, wo er bis 2004 Ballettchef war. Was er womöglich immer noch wäre, wenn die Lokalpolitiker seine Größe erkannt und seine Mission begriffen hätten: die Versöhnung von Kunst und Technik im Zeichen eines faustischen Forschergeists.

Geboren am 30. Dezember 1949 in New York, wächst William, den alle nur "Billy" nennen, in einem anregenden Elternhaus auf. Der Vater ist in der Werbebranche tätig, im Stammbaum der Mutter finden sich Musiker aller Art. William musiziert ganz gern, aber noch lieber schraubt er alles auseinander, was ihm zwischen die Finger kommt. Ob Badewannenarmatur oder Spielzeug - der Junge will wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Dieser Drang beflügelt auch seine tänzerische Laufbahn, die 1971 beim Joffrey Ballet in Chicago beginnt und ihn wenig später nach Deutschland führt, zum Stuttgarter Ballett.

Tänzerisches Selbstbewusstsein im Sinne der Postmoderne: "Anything goes"

Er gilt als choreografisches Talent und Hoffnungskomet am Balletthorizont von Den Haag über Paris bis München. 1984 folgt er dem Ruf der Mainmetropole, wo die "Schwanensee"-Fraktion lautstark nach den üblichen Ballett-Delikatessen verlangt. Forsythes Menü bietet eher Hausmannskost. In "Gänge" wird der akademische Tanz-Drill aufgespießt, "Artifact" versenkt stupendes Virtuosentum in einer Blackout-Schleife, "Impressing the Czar" rekapituliert das neoromantische Wunder der russischen Schule - und löscht es aus. Forsythes Wagemut macht sich überraschend schnell bezahlt: Frankfurt wird zur Wallfahrtsstätte all derer, die Tanz ohne Tutu und Trallala bevorzugen.

Immerhin bleibt der Spitzenschuh erhalten und mit ihm die Ballerina. William Forsythe ist kein Abräumer, sondern ein penibler Aufräumer. Was er in der Schatzkammer des Balletts entdeckt, wird begutachtet, vermessen, entkernt und dynamisch rekombiniert. Die gemeine Pirouette dient als Gerüst schier endloser Spins, es herrscht barocker Exzess. Forsythes phänomenale Erfindungen sprengen den neoklassischen Rahmen, den George Balanchine um die Mitte des 20. Jahrhunderts etabliert hat. Dieser Bruch, vielfach unter E-Klanggewittern von Thom Willems exekutiert, erzeugt Hochspannung.

An der Pariser Oper setzt Forsythe 1987 dank "In the Middle, Somewhat Elevated" nicht nur die fulminante Sylvie Guillem in Szene, sondern eine Art Goldstandard des Fachs. Messerscharfe Battements und vorwärts peitschende Hüftschwünge künden von tänzerischem Selbstbewusstsein im Sinne der Postmoderne: "Anything goes". Das Motto gilt auch für den Choreografen selbst, der bald mit IT-Experimenten und kinetischen Installationen von sich reden macht. Mit begeh-, bespiel- oder beturnbaren Objekten wie "White Bouncy Castle" (1997), einer Hüpfburg, die der seinerzeitigen Lieblingsbeschäftigung seiner drei Kinder geschuldet ist.

Nach der Abwicklung des Frankfurter Balletts zieht sich Forsythe in die Performance-Ecke zurück, um zehn Jahre und etliche Krisen später wieder auf stilvolleres Terrain zurückzukehren. Glücklicherweise, denn seitdem ist jedes neue Forsythe-Original wieder eine Überraschung, ob es in Paris, London oder Boston heraus-kommt. Seit 2015 lebt der Choreograf hauptsächlich in den USA, auf einer Farm in Vermont. Seine Gefährtin, die Ex-Tänzerin Dana Caspersen, ist auf Streitschlichtung spezialisiert. Sie ist davon überzeugt, dass Konflikte normal sind. Forsythe dagegen wertet das Scheitern als Regel, immer und überall. Erst neulich hat er den alltäglichen "Fail" als Befreiung deklariert, besonders im perfektionssüchtigen Ballett. Wenn dem so ist, soll William Forsythe unbedingt weiter scheitern, "besser scheitern", wie Samuel Beckett das nannte. Weil seine Ausrutscher epochale Kunst produzieren, das Signet des spätmodernen Tanzes schlechthin.

© SZ vom 30.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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