Wiener Avantgarde:Opernmörder

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Vom Flügel­zertrümmerer zum Archivar der Avantgarde: Der Schriftsteller Gerhard Rühm wird neunzig.

Von Daniela Strigl

Manchmal ist die Literaturgeschichte ungerecht, manchmal auch gegen jene, denen sie einen fixen Platz zuerkennt: Wenn heute der 1930 in Wien geborene Dichter, Musiker und Zeichner Gerhard Rühm seinen neunzigsten Geburtstag begeht, dann verbindet man kaum den pikanten Lyrikband "Geschlechterdings" (1990) oder den "utopischen roman" "textall" (1993) mit seinem Namen, sondern die Wiener Gruppe der fünfziger Jahre. Mit ihr hat Gerhard Rühm sich in die Annalen der revolutionär modernen Literatur der Nachkriegszeit eingetragen, und dass er als das vielseitigste unter all ihren künstlerischen Talenten danach noch weitere sechzig Jahre Avantgarde produziert hat, wurde nicht mehr mit demselben Interesse wahrgenommen.

Der Sohn eines Wiener Philharmonikers studierte Klavier und Komposition an der Akademie für Musik und darstellende Kunst. Mit seinen Freunden H. C. Artmann, Friedrich Achleitner, Konrad Bayer und Oswald Wiener brachte er es ab dem ersten Gruppenauftritt 1957 zu Skandalehren: zum einen durch die von Artmann initiierte handstreichartige Übernahme des Dialekts für wenig gemütvolle, sprachspielerische Experimente in dem Gemeinschaftsband "hosn rosn baa" (Hasen, Rosen, Gebeine); zum anderen durch "literarische cabarets" zwischen Schülerjux und Kultur-Revolution, in denen die bösen Buben aus Wien sozusagen das Happening erfanden: Als Höhepunkt rückten Rühm und Achleitner, durch Fechtmasken geschützt, mit der Hacke einem Klavier zu Leibe.

Die Errungenschaften seines Frühwerks hat Rühm nie verraten

Auch literarisch gab man sich brachial: In Bürgerschreckmanier dichtete Rühm gemeinsam mit Bayer die Fäkalode "scheissen und brunzen", deren Succus "scheissen und brunzen / sind kunsten" bereits Ernst Jandls "heruntergekommene Sprache" vorwegnimmt.

Die Öffentlichkeit war nach etlichen empörten Kritiken gehörig aufgebracht - vor allem die Zertrümmerung des Flügels wurde in der Musikstadt als ethisch verwerflich betrachtet. In der Folge traute man dem "Mundartdichter" Rühm alles zu. Im Fall eines in der Staatsoper ermordeten Ballettmädchens wurde er 1963, wie der Boulevard aufgeregt berichtete, gar als der "Opernmörder" verdächtigt und musste - wie auch die Aktionisten Otto Mühl und Hermann Nitsch - der Polizei ein Alibi erbringen, schließlich hatte er sich in einem seiner ätzend-makabren Chansons in die Seele eines Lustmörders fantasiert. Aus der ungelüfteten Atmosphäre der in geistiger Lähmung befangenen Stadt floh Rühm zunächst nach Berlin. Von 1972 bis 1996 lehrte er als Professor an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg. Seit 1976 lebt er in Köln.

Am Prozess der eigenen Musealisierung war Gerhard Rühm nicht ganz unbeteiligt, hat er doch als gründlicher Archivar und Chronist der Wiener Gruppe sowie als Herausgeber der Werke Konrad Bayers literarhistorische Deutungshoheit beansprucht. Mit Friedrich Achleitner wollte er einmal eine alternative Literaturgeschichte schreiben, in der "andere Leute einen großen Platz einnehmen als heute", von der Barockliteratur über Christian Dietrich Grabbe bis hin zu den Dichtern des Expressionismus.

Die theoretischen und poetologischen Errungenschaften seines Frühwerks hat Rühm nie verraten, er hat sie allerdings unermüdlich ausgebaut. Heute wäre seine Antwort auf die Frage "Was soll Kunst?" wohl wie gehabt: "Provozieren"; und wenn es auch nur um die Provokation neuer Sichtweisen geht.

Die Sprache als bloßes Material, als Werkstoff der Wortkunst, die sinnbefreite Besinnung auf den einzelnen Buchstaben oder Laut, sei es in der konkreten Poesie, sei es im Lautgedicht, versteht sich als Kampfansage gegen die Konventionen des Linearen und kausal Verketteten. Aber Rühm hat nicht nur gezeigt, was alles mit der Sprache anzufangen ist, wenn man sie von der Bürde der Mitteilung befreit, er hat auch mit Klischee und Bedeutung jongliert und absurde Geschichten erzählt. Schon die mit Konrad Bayer verfaßte Operette "der schweissfuss" war ein wohl nicht ganz ernst gemeinter Versuch, ein "erfolgsstück" nach den Gesetzen des Unterhaltungsmainstreams zu produzieren.

Im Schwellenbereich zwischen Musik und Sprache, Bild und Gestik wurde er zum Neuerer

Auf ähnlich zupackende Weise hat Gerhard Rühm sich der Gattung des Chansons bemächtigt und es im Geiste der Schwarzen Romantik interpretiert, wobei hinter der musikalischen Camouflage oft das Entsetzliche oder Ernüchternde des Textes lauert, etwa in "lebenslauf": "sprang dem vater aus dem glied / rackerte sich nimmermüd / baute sich ein kleines haus / und da wars schon wieder aus." Rühms abgrundtiefer Witz, seine Intelligenz und Verblüffungskunst kommen dank seiner unverwechselbar sonoren Stimme im Vortrag zu besonderer Geltung. Überhaupt hat Rühm als Hörspielautor und -interpret Maßstäbe gesetzt, bis heute führt er seine "ton-dichtungen" für zwei Stimmen mit seiner Frau Monika Lichtenfeld auf.

Gerade im Schwellenbereich zwischen Musik und Sprache, Gesang und Schrift, Bild und Gestik wurde Gerhard Rühm zum Neuerer und Erfinder hybrider Formen. "Geometrie und Leidenschaft" lautet der bezeichnende Titel eines Buches mit bildnerischen Arbeiten zwischen strenger Linie und gestischer Ausdruckslust.

Zehn Bände umfassen Rühms Gesammelte Werke, der zehnte Band ist angesichts seines geradezu beängstigenden Einfallsreichtums für "Nachträge" vorgesehen. Für einen Künstler, der das Wort "jetzt" zu einem essenziellen Begriff seiner Poetik erklärt hat, ist es auch mit Neunzig eine schöne Selbstverständlichkeit, nach vorne zu schauen.

© SZ vom 12.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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