Weltuntergang:An der Baumgrenze

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Heinz Helles Endzeit-Parabel "Eigentlich müssten wir tanzen" geht für ihre schmerzhaft schöne Eleganz ein hohes Risiko ein.

Von Christopher Schmidt

Einmal kommen sie zu einem Kreisverkehr, der sich in eine einzige, heillos ineinander verkantete Blechlawine verwandelt hat. Das Ganze erinnert an eine grausige Kunstinstallation zum Thema Verkehrsinfarkt oder Grenzen der Mobilität. Unzählige Fahrzeuge, zusammengeschoben wie von einer Metallpresse, bilden ein Mahnmal der Massenhysterie. Denn offensichtlich haben sich ständig neue Autos, aus verschiedenen Richtungen kommend, in den Kreisverkehr gedrängt, bis keines mehr hinaus- oder hineinkonnte, und dann sind alle immer schneller gefahren, wodurch aus dem Kreisel eine Art Teufelsrad geworden ist, eine tödliche Zentrifuge. Und irgendwann müssen sämtliche Fahrer genau im selben Moment die Nerven verloren und Gas gegeben haben, als hätten sie sich zum kollektiven Selbstmord verabredet. Ein anderes Mal dringen die fünf jungen Männer - Drygalski, Gruber, Fürst, Golde und der namenlose Ich-Erzähler - in die verlassene Bergstation einer Seilbahn ein. Unfähig, die Stahltür zum Heizungskeller aufzubrechen, verbringen sie die Nacht tanzend im leeren Speisesaal - tanzend, um die Kälte nicht zu spüren, um in Bewegung und also am Leben zu bleiben.

Lebe ich noch? Am Anfang ist das eine Frage im Ratespiel, am Ende blutiger Ernst

Wochen zuvor waren sie aufgebrochen. Mit dem Auto und viel Bier in den Rucksäcken ging es in die Berge, im Radio lief Helene Fischer, und alle grölten den Refrain mit: "Atemlos durch die Nacht". Ein Wochenende in Tirol, so war es gedacht, eine Männerrunde, die alte Gang, wie so oft versammelt auf Grubers Hütte, wo man nichts tut als sich zuzuschütten und den Alltag zu vergessen. Beim Personenraten mit dem gelben Post-it an der Stirn dachten sie sich nicht viel, wenn wie immer die erste Frage lautete: Lebe ich noch? Doch dann sehen sie fernen Feuerschein im Tal. Kurz darauf folgt der Abstieg in ein verwüstetes Land - während sie oben an der Baumgrenze waren, ist unten in der Ebene die Welt untergegangen.

"Unsere Füße streifen über den weichen Waldboden. Wir heben sie nicht mal mehr richtig hoch. Wir streicheln die Oberfläche des Planeten, als wollten wir uns mit ihm versöhnen." (Foto: Robert Haas, Bearbeitung: SZ)

Es ist eine lange Wanderung, von der Heinz Helles Roman "Eigentlich müssten wir tanzen" erzählt, eine Wanderung ohne Ziel, angetrieben allein von der Suche nach Nahrung und Resten menschlichen Lebens. Aus Freunden werden nach und nach Fressfeinde, und jede Kehre auf ihrem Marsch könnte die letzte sein. Unwillkürlich denkt man bei diesem schmalen Endzeit-Roman, dem zweiten Buch des 1978 geborenen Autors, an Cormac McCarthy und seinen 2006 erschienenen dystopischen Roman "Die Straße". Doch anders als dem Chef-Apokalyptiker aus Amerika geht es Helle nicht um die Frage, wie wir wissen können, ob wir noch menschliche Wesen sind, wenn es niemanden mehr gibt, der uns sagt, was gut ist und was böse. Bei Heinz Helle ist die Verrohung, die Regression, der Sturz in die Hölle, die unter der dünnen Kruste der Zivilisation brennt, allein schon durch das Genre des Katastrophenromans gesetzt. Gleich im zweiten Kapitel vergewaltigen die Männer nacheinander eine Frau, und ein Kind, das neben den Leichen seiner Eltern im Wald sitzt, lassen sie ungerührt zurück.

Heinz Helle: Eigentlich müssten wir tanzen. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 173 Seiten, 19,95 Euro. E-Book 16,99 Euro. (Foto: verlag)

Die Frage, die dieses Buch stellt, ist eine andere. Zugespitzt könnte sie so lauten: Was bringt scheinbar ganz normale junge Männer dazu, sich lange Bärte wachsen zu lassen, zum Islam überzutreten und in einen Krieg zu ziehen, der für sie ein heiliger ist? Zwar schließen die jungen Männer im Roman sich nicht dem IS an, das wäre ein anderes Buch geworden, und doch scheint dies allein ihrer äußeren Lebenssituation geschuldet zu sein. Um sich fanatisieren zu lassen, sind sie zu gut ausgebildet, zu aufgeklärt, stecken zu fest in ihren Berufen, als Architekt, Mikrobiologe oder Pilot, und in ihren Biografien. Und doch setzt der Ausnahmezustand etwas in ihnen frei, eine latente Lust am atavistischen Blutrausch bricht sich Bahn. Als sie feierlich ihre Handys in einem verseuchten See versenken, wird diese Szene so emphatisch aufgeladen, dass klar ist: Hier kommt es zum Schwur. Die Katastrophe, die nie näher benannt wird, erleben die fünf auch als Erlösung, als eine vitalistische Explosion dessen, was der Literaturwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma als "autotelische Gewalt" bezeichnet: den zweckfreien Selbstgenuss an der Zerstörungmacht. Im Grunde waren Helles Protagonisten Schläfer, und erst der Weltenbrand hat sie aufgeweckt. "Wir sind ein auf mehrere Körper verteilter Wille geworden, und neben dem Teil dieses Willens, den jeder von uns in sich trägt, ist kein Raum mehr für irgendetwas anderes", heißt es an einer Stelle.

Es gibt eine Härte des Stils, die schon wieder dekorativ wirkt, eine Blumigkeit des Bösen

Was diesen Roman so bemerkenswert macht, ist nicht die absehbare Dezimierung der Gruppe durch Hunger, Erschöpfung oder eine hochgehende Landmine, die das Geschehen auf einen finalen Zweikampf zusteuern lässt - bemerkenswert sind vielmehr vor allem die eingeblendeten Echos der Erinnerung. Wie jeder gute Zukunftsroman ist auch dieser im Kern Gegenwartskritik. Und das Leitmotiv seiner Kritik bildet die Sehnsucht nach dem Abbau von Komplexität. Die Welt, an die sich die Wanderer erinnern, war eine Welt der vorgestanzten Lebensläufe, der sozialen Kompetenz und gezähmten Männlichkeit. Jetzt aber ist aus ihnen eine verschworene Urhorde geworden, und dazu scheint seltsam zu passen, dass der Autor sich am Ende des Buches unter anderem bei seinem "Stammtisch" bedankt. In einer Szene unterlegt Helle den Laboralltag des Biologen Drygalski mit einem Songtext des Aggro-Rappers Eminem. In einer anderen telefoniert der Lagerist Gruber mit einem Lieferanten und schaut dabei einen Hardcore-Porno im Internet.

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Zugleich aber - und das ist die Dialektik - konfrontiert die Situation die Figuren immer wieder mit den eigenen Grenzen. Wenn sie in der abgetauten Kühlkammer eines Supermarkts an aufgeweichter Tiefkühlkost lutschen, wird ihnen höhnisch vor Augen geführt, dass es kein zurück zur Natur gibt. Dem Überlebenskampf sind von zwei Seiten Grenzen gesetzt, subjektiv durch das Fehlen der nötigen Fertigkeiten, um sich autark versorgen zu können, objektiv durch Verhältnisse, in denen selbst die vermeintlich heile Bergwelt abhängig ist von der industriellen Infrastruktur.

Heinz Helle findet für diese Dialektik Sprachbilder von karger Schönheit: Hier schreibt ein Eisheiliger, der allerdings in der Gefahr schwebt, dass seine Verhaltenslehren der Kälte zur Allegorie gefrieren. Wenn er etwa die Männer auf einen Überseecontainer stoßen lässt, der nichts als nutzlose Kühlschränke enthält, oder wenn sie feststellen, dass das Peace-Zeichen, das sie mit ihren Füßen in den Schnee schreiben und von dem es heißt: "Wir stampften dem Planeten die letzten Reste von Bedeutung ein", einem Mercedes-Stern gleicht - dann sind das leicht zu entschlüsselnde Chiffren der Zivilisationskritik. In seinem 2014 erschienenen Debüt "Der beruhigende Klang von explodierendem Kerosin" hatte Heinz Helle sein kulturelles Unbehagen an eine ganz konkrete Geschichte vom Ende der Jugend geknüpft. Für sein zweites Buch hat er nun die geschlossene Form der Parabel gewählt, und deren Abstraktheit setzt ihm allzu geringen stofflichen Widerstand entgegen. Der Autor huldigt einem Pathos der Distanz, Ästhetisierung und Anästhetisierung gehen einher. Doch die dünne Luft befördert Helles Hang zur stilsicheren Arabeske. Seine posthumanistische Botschaft fasst er einmal in folgende Wendung: "Unsere Vorfahren waren Jäger, Züchter, Schlachter.

Wir sind nur noch zu groß geratene Bakterien." Bisweilen droht der Minimalismus in diesem Buch, dekorativ zu werden und in einen Kitsch der Härte umzuschlagen, eine Blumigkeit des Bösen. Das verbindet Helle mit einer jungen Autorin aus dem selben Verlag. Auch Valerie Fritsch erzählt in ihrem Roman "Winters Garten" vom Weltuntergang, auch sie ist eine große Sprachartistin, die hart an der Grenze zur edelmorbiden Endzeit-Bukolik entlangschrammt. Und auch bei ihr hat man den Eindruck, dass sie die Erde vor allem deshalb entvölkert, damit ihrem Kunstwollen nichts mehr im Wege steht. Auf diesem schmalen Grat balanciert, alpinistisch gesprochen, ebenso der Autor Heinz Helle.

© SZ vom 13.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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