Weltliebesgeschichten:Die Mistel im Baum der Gesellschaft

Lesezeit: 3 min

Michael Jeismann erzählt von Paaren zwischen zwei Kulturen, die auf der "Freiheit der Liebe" beharren, auch wenn ihnen die eheliche Verbindung erschwert oder gar unmöglich gemacht wird.

Von Hannelore Schlaffer

Die Werke der Geschichtsschreibung lassen sich in zwei Gattungen einteilen: in diejenigen, die sich einer Epoche zuwenden und etwa die Geschichte der Reformation oder die der Befreiungskriege darstellen; und in die anderen, die ein Thema durch mehrere Epochen hindurch verfolgen. Zu diesen ideengeschichtlichen Werken, welche die Gegenwart aus der Vergangenheit heraus verstehen wollen, zählt das Buch des Historikers und Journalisten Michael Jeismann über "Paare zwischen zwei Kulturen", die, so der Obertitel, auf der "Freiheit der Liebe" beharren, auch wenn ihnen über geografische Grenzen hinweg und mehr noch durch unterschiedliche kulturelle Prägung eine eheliche Verbindung erschwert oder gar durch Gesetz unmöglich gemacht wird.

"Das Bereichernde der anderen Kultur gibt es nicht ohne eigene Anstrengung."

Die Aktualität von Jeismanns Weltgeschichte der Paarbeziehungen und der ihnen entsprechenden ehelichen Kodizes ist in der gegenwärtigen Epoche der Einwanderung und Integration zu evident, als dass darauf eigens eingegangen werden müsste. Die Widerstände gegen eine Eheschließung zwischen zwei Menschen aus verschiedenen Stämmen, Staaten oder Religionen gibt es allerorten zu allen Zeiten. Die Inhumanität des Heiratsverbots ist inzwischen jedermann bewusst, denn bereits im 19. Jahrhundert begannen in Europa die Versuche, diese Grenzen abzubauen - und erst ihr Erfolg macht Jeismanns Buch überhaupt möglich.

So wären denn die Grundgedanken des Buches weitgehend bekannt und anerkannt. Jeismann bleibt deshalb die schwierige Aufgabe, seinem Stoff Interesse zu verschaffen durch eine Erzählung, die fasziniert durch den Reichtum an Ereignissen und deren dramatischen Verlauf. Einen solchen Stoff zu finden, ist allerdings im Falle einer Liebe, der sich Hindernisse in den Weg stellen, nicht allzu schwierig.

Die "Schicksalslandschaften" dieser "Extravaganten", dieser Menschen, die gebannt sind vom "Anderen", vom "Außergewöhnlichen", zu schildern, verlässt Jeismann dennoch nicht selten die Politik und greift Märchen und Mythen auf, die die realen Probleme widerspiegeln und sich anschaulich nacherzählen lassen. So beginnt er seine Geschichte der getrennten Paare bei den Göttern, jenen Fantasiewesen, die den größten Abstand zu überwinden haben, falls sie ein menschliches Wesen lieben, die Göttin Ischtar etwa, die den Gilgamesch liebt, oder Ahmed, der die Fee Peri Banû begehrt. Stil und These des Buches werden anhand dieser Mythen deutlich: "Das Bereichernde der anderen Kultur gibt es nicht ohne eigene Anstrengung. Sie beginnt in der Familie - und es gibt keine genaueren Beobachtungen dieser Konstellation als im Märchen."

Es zeigt sich an den mythischen Beispielen zwar, wie der Widerstand gegen eine Vereinigung des scheinbar Unvereinbaren in der Familie beginnt, wie aber in der Realität die Staaten als erweiterte Familien den Widerstand intensivieren. So setzt die europäische Geschichte der Paarbeziehung in Athen und Rom ein, wo die Paare meist ständische Schranken zwischen Patriziern und dem Plebs zu überwinden hatten. In Sparta ist sogar die Verbindung "normaler" Paare durch die generell akzeptierte jugendliche Homosexualität erschwert, die den Übergang des jungen Mannes zur Heterosexualität, wie sie dem Bürger nun einmal geboten ist, nicht vorbereitet hat.

Man könnte dieses Buch voller Liebesgeschichten geradezu eine Novellensammlung nennen

Immer wieder greift Jeismann auch in den Epochen, da die Geschichte Dokumente über schwierige Paarbildungen genug bereithält, auf Sage und Legende zurück, um den politischen Einzelfall mit Poesie anzureichern. So widmet er eine lange Passage der Geschichte der Agnes Bernauer, um deren Leben sich "ein ganzes Riff aus Legenden, Halbwahrheiten und reiner Dichtung angesammelt hat".

Allerdings geht es nicht so sehr um die Legende selbst, als vielmehr um deren Rezeption im 19. Jahrhundert. Die Biografie der schönen Augsburgerin Agnes Bernauer, der Geliebten des Herzogs Albrecht III., die für ihre Liebe 1435 mit dem Tod büßte, dient dem aufkommenden Liberalismus, nicht zuletzt durch Grillparzers Dramatisierung, zur Mahnung: "In diesem Jahrhundert der Liebeseuphorie war Agnes Bernauer eine perfekte Identifikationsfigur des Bürgertums, weil sich mit ihr antiständische, vor allem antiadelige Pointen bestens verbinden ließen."

Immer wieder zieht dennoch die Politik neue Grenzen, welche die privaten Verhältnisse berühren, so etwa die Kolonialpolitik, die rassistische und religiöse Argumente einsetzt, um Paare zu trennen, oder in der jüngsten Geschichte der Kalte Krieg, während dessen die sozialistischen Staaten die Ausreise Heiratswilliger verboten. Bis in die Gegenwart bleibt also die Paarbeziehung ein Indikator des politischen Bewusstseins: "Das 'gemischte Paar' ist die Mistel im Baum der Gesellschaft" - mit dieser poetischen Metapher erhebt Jeismann seine Erkenntnis zur Lehre.

Dieser These ist nichts entgegenzusetzen. Die Fülle des Materials aber, das sich in diesem Buch aus historischem Stoff und Poesie zusammenfindet, verleitet den Autor allzu oft zu behäbigem Erzählen. Man könnte das Buch, das so viele Liebesgeschichten ausbreitet, geradezu eine Novellensammlung nennen. Es ist eine doppelte Geschichte, eine im politischen wie im poetischen Sinne, der aber eines fehlt: die psychologische Perspektive.

Wie die Paare die Behinderungen an sich selbst erleben, wie sie damit umgehen, wie sie sich selbst trotz kultureller Unterschiede aneinander anpassen, davon erfährt der Leser nichts, obwohl es zumindest in der neueren Geschichte private Dokumente gegeben hätte, in denen auch die Herzen der Getrennten und nicht nur die Gesetze sprächen. Der politischen Entwicklung hätte sich so eine der privaten Kultur hinzufügen lassen.

Michael Jeismann: Die Freiheit der Liebe. Paare zwischen zwei Kulturen. Eine Weltgeschichte bis heute. Carl Hanser Verlag, München 2019. 350 Seiten, 26 Euro.

© SZ vom 10.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: