Die Literatur-Kolumne:Was lesen Sie?

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"Ich möchte in vergangenen Epochen nicht meine eigenen Befindlichkeiten wiederfinden, sondern über ihre Andersartigkeit staunen." Das gilt auch für historische Romane, findet die Historikerin Barbara Stollberg-Rilinger. (Foto: N/A)

In unserer Interviewkolumne fragen wir bekannte Persönlichkeiten nach ihrer aktuellen Lektüre. In dieser Folge: Barbara Stollberg-Rilinger.

Von Miryam Schellbach

Barbara Stollberg-Rilinger strahlt weit über ihre akademische Disziplin, die Geschichtswissenschaft, hinaus. Mit "Maria Theresia", einer Biografie der habsburgischen Kaiserin, wurde sie 2017 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Seit 2018 leitet Barbara Stollberg-Rilinger das Wissenschaftskolleg zu Berlin.

SZ: Was lesen Sie gerade?

Barbara Stollberg-Rilinger: "Nach der Ewigkeit" , eine Sammlung von Erzählungen des russischen Arztes und Schriftstellers Maxim Ossipow. Er hat sein Land (womöglich für immer) verlassen, nachdem er einen Protestbrief gegen Putins Krieg unterzeichnet hatte. Die lakonischen Geschichten erzählen vom Alltag in der postsowjetischen Provinz: der Bürokrat im Krankenhaus, die Rebellin aus Tadschikistan, der bildungsbeflissene Oligarch und seine beiläufige Grausamkeit. Unbedingt lesen!

Was ist das letzte richtig gute Buch, das Sie gelesen haben?

Annie Ernaux - alles von ihr. Als ich eines ihrer Bücher gelesen hatte, konnte ich nicht mehr aufhören.

Was haben Sie zuletzt aus welchem Buch gelernt, das Sie vorher nicht wussten?

Von Serhij Zhadans meisterhaftem Roman "Internat": wie man sich den alltäglichen Horror in der von Russland besetzten Ukraine vorstellen muss. Das ist erhellend und erschütternd zugleich.

Welches Buch erklärt für Sie am besten die ganze Welt?

Erklärt nicht die ganze Welt, aber verändert unwiderruflich die Perspektive auf sie: Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung Bd.1-6. Man lernt, dass das, was selbstverständlich zu sein scheint, eigentlich ganz unwahrscheinlich war, und dass alles immer auch ganz anders sein könnte, als es ist.

Ein Kinderbuch, aus dem Sie noch heute einen Satz auswendig können (und wie lautet der)?

Wilhelm Busch, "Max und Moritz": "Ach, was muss man oft von bösen / Buben hören oder lesen..." - nicht ganz korrekt zitiert, aber so immer wieder aktuell.

Welche Figur aus einem Roman oder überhaupt einem Buch fällt Ihnen immer wieder ein?

Holden Caulfield aus "Der Fänger im Roggen" , meine liebste Identifikationsfigur, als ich fünfzehn oder sechzehn war. Ich war fasziniert von der Verlorenheit, der Fremdheit in der Welt, dem trockenen Humor. Ich erinnere mich mittlerweile am besten an die Bücher, deren Lektüre am weitesten zurückliegt.

Die drei wichtigsten Metaphern der politischen Theorie?

Der Körper, das Schiff, die Maschine.

Vertrauen Sie historischen Romanen?

Nein. Mein Problem mit (den meisten) historischen Romanen ist, dass sie eine falsche Vertrautheit mit den Figuren suggerieren, anstatt sich von ihrer Fremdheit irritieren zu lassen. Ich möchte in vergangenen Epochen nicht meine eigenen Befindlichkeiten wiederfinden, sondern über ihre Andersartigkeit staunen.

Weitere Folgen der Interview-Kolumne lesen Sie hier .

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