Sind Sie Deutscher? Dann sind Sie übergewichtig. Statistisch gesehen. Jeder zweite Deutsche wiegt, am herrschenden Body-Mass-Index und damit an der Körpergröße gemessen, zu viel - Männer noch deutlich häufiger als Frauen. Unter beiden Geschlechtern liegt der Anteil der "Fettleibigen" und also besonders Dicken bei einem Viertel, Tendenz steigend.
Sehen wir uns die Daten genauer an. Übergewicht ist ein stark alterskorreliertes Phänomen: Je älter wir werden, desto höher das Risiko, dick zu sein. Liegt der Anteil der statistisch Dicken unter Jugendlichen bei etwa einem Drittel, so steigt er bei den über 70-Jährigen auf nicht weniger als 80 Prozent an. Im Zeichen gesellschaftlicher Alterung - das hiesige Durchschnittsalter von derzeit 46,2 Jahren wird sich in den kommenden Jahrzehnten erhöhen, die Altersgruppe "60 plus" statt einem Viertel tendenziell ein Drittel der Bevölkerung ausmachen - müssen wir also auch mit mehr Altersspeck rechnen. Die Deutschen werden in diesem Jahrhundert mit ziemlicher Sicherheit nicht aussterben. Aber sie werden vermutlich zunehmen.
Ein Wohlstandsphänomen? Einerseits schon: Die Übergewichtsraten steigen, das zeigt die globale Entwicklung in den 2000er-Jahren, mit dem nationalen Pro-Kopf-Einkommen. Wobei hier wenig überraschend der Fast-Food-Weltmeister USA an der Spitze liegt, aber auch Argentinien rindfleischbedingt ganz gut im Futter steht und selbst Brasilien und China beginnen, einen Wohlstandsbauch anzusetzen. Einerseits. Andererseits zeigen alle Daten, dass Übergewicht, wie überhaupt so viele Dinge, sozialstrukturell ungleich verteilt ist: je reicher, desto schlanker. Der Anteil stark übergewichtiger älterer Frauen etwa ist in Deutschland unter den weniger Wohlhabenden mehr als dreimal so hoch wie bei den gut Situierten, dasselbe erhöhte Adipositas-Risiko findet sich auch schon bei Mädchen aus ärmeren Haushalten.
Altwerden ist eine Frage des sozioökoomischen Status
So gesehen müssten sich deutsche Krankenkassen und Lebensversicherer gar nicht so große Sorgen machen - die Sozialstatistik weiß, dass nicht die Guten jung sterben, wie es sprichwörtlich heißt, sondern vor allem die Armen. Wenn in Politik und Medien immer wieder gewarnt wird, dass Deutschland altere, dann ist dies eben nur die halbe Wahrheit: Altwerden ist in vielerlei Hinsicht eine Frage des sozioökonomischen Status. Nur 15 Prozent der Männer aus den alten Bundesländern erhielten 2012 eine gesetzliche Rentenzahlung von mehr als 1 500 Euro im Monat; bei einem Drittel lag der Zahlbetrag hingegen unter 750 Euro. Was wiederum bei drei von vier (west)deutschen Frauen der Fall ist, unter denen nicht einmal jede zehnte über 1 000 Euro und weniger als jede hundertste über 1 500 Euro Rente bezieht.
Insbesondere für Männer lässt sich zudem ein deutlicher Zusammenhang zwischen Einkommen und Lebenserwartung feststellen: nur sieben von zehn Männern aus Armutshaushalten (aber neun von zehn aus den obersten Einkommensgruppen) erleben überhaupt ihren 65. Geburtstag. Ihre Lebenserwartung bei Geburt ist gegenüber jener der Bestverdienenden um durchschnittlich zehn Jahre, die sogenannte "gesunde Lebenserwartung" sogar um fast 15 Jahre reduziert. Deutschland altert also, aber äußerst "differenziell", wie die Sozialstrukturanalyse das frühe Erkranken und Sterben in Armutsmilieus elegant umschreibt.
Dieser Zusammenhang gilt nicht nur für Deutschland, sondern für ganz Europa. Dasselbe lässt sich für die Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen sagen, wobei Deutschland, wer hätte das von der Heimstatt der "Sozialen Marktwirtschaft" und des "Wohlstands für alle" gedacht, kein Musterschüler ist. Das reichste Fünftel der deutschen Haushalte verfügt etwa über das fünffache Einkommen des ärmsten Fünftels. Damit liegt Deutschland auf EU-Durchschnittsniveau.
Vermögenswerte hingegen sind bei uns so ungleich verteilt wie in kaum einem anderen reichen Land der Welt. Zehn Prozent der deutschen Haushalte besitzen 60 Prozent aller Nettovermögen, die gesamte untere Hälfte der deutschen Gesellschaft dagegen hat bestenfalls mit einer schwarzen Null im großen Vermögensbildungs- und Erbverteilungsspiel zu rechnen. Wobei gerade hier die auch sonst bemerkenswerten innerdeutschen Ungleichheiten zu betonen sind. Deutschland wird immer noch durch eine große Vermögensmauer geteilt, das Nettogesamtvermögen westdeutscher Haushalte liegt gut doppelt, ihr Grund- und Immobilienvermögen mehr als dreifach so hoch wie das der ostdeutschen - im Durchschnitt wohlgemerkt.
Wenn Deutschland daher heute als der starke Mann und oft auch als Krisengewinnler Europas bezeichnet wird, dann ist diese Diagnose durchaus sozialstrukturell zu differenzieren. Aber es stimmt: Nie war Deutschland so eindeutig Wirtschaftsmacht Nummer eins in Europa, niemand hat von den ökonomischen und politischen Machtverschiebungen der letzten Jahre so profitiert wie "die Deutschen".
Das hiesige Bruttoinlandsprodukt pro Kopf (in Kaufkraftstandards) lag zuletzt, trotz des bleibenden innerdeutschen Wohlstandsgefälles, um 22 Prozent über dem europäischen Durchschnitt - und damit in der absoluten EU-Spitzengruppe; lässt man den statistischen "Ausreißer" Luxemburg außer Acht, dann ist Westdeutschland noch vor den kleinen Wohlfahrtsökonomien der Niederlande, Schwedens oder Österreichs das Reichenhaus Europas. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten weisen nun sogar die öffentlichen Haushalte, jedenfalls jener des Bundes, einen deutlichen Einnahmeüberschuss aus - und dass Deutschland über das Niedrig- oder Null-Zinsniveau im Zeichen der "Schuldenkrise" Zug um Zug seine Staatsschulden auf Kosten anderer Euro-Staaten reorganisiert und sich so günstig wie nie refinanziert, ist auch kein Geheimnis mehr.
Umso geheimnisvoller mutet es an, dass die Fluchtwanderung des letzten Jahres unter den Deutschen nicht zuletzt auch finanzielle und fiskalische Sorgen geschürt hat - selbst bei den politischen Eliten, die es eigentlich besser wissen müssten. Deutschland im Jahr 2016: Das scheint, glaubt man der öffentlichen Meinung, ein einziges großes Flüchtlingslager zu sein. Und "deutsch" ist es heute offenbar zuallererst, auf die erreichten oder gar schon überschrittenen Belastungsgrenzen eines der reichsten Länder der Welt hinzuweisen, auf das Ende der Geduld einer Bevölkerung, der es in absoluten wie relativen Maßstäben noch niemals besser ging als jetzt. Diese Bevölkerung war übrigens seit Menschengedenken nicht migrantischer geprägt als heute, ganz unabhängig von den jüngsten Zuwanderungszahlen. Im Jahr 2013 lebten über 16,5 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland - ziemlich genau ein Fünftel der Wohnbevölkerung. Von ihnen waren weit über die Hälfte staatsbürgerrechtlich Deutsche. In Baden-Württemberg, Hessen oder Nordrhein-Westfalen beträgt ihr Anteil jeweils deutlich über ein Viertel, in München, Nürnberg oder Stuttgart geht er mittlerweile auf die 40-Prozent-Marke zu.
Eine deutsche "Flüchtlingskrise"? Die Einwanderungsgesellschaft war schon vorher da
Die heute Zuwandernden kommen also ohnehin schon in eine Einwanderungsgesellschaft, auch wenn die "Einheimischen" dies häufig nicht wahrhaben wollen. Nach 1950 haben 4,5 Millionen Aussiedler Aufnahme in der Bundesrepublik gefunden, zwischen 1990 und 1993 kamen eine Million Spätaussiedler hierher. Nicht nur vermeintliche "Problemviertel" oder die große Zahl der "ausländischen" unter den rund 160 000 gastronomischen Betrieben in Deutschland, sondern eben auch zahllose Breslauer, Stettiner und Königsberger Straßen in den ehemaligen Neubaugebieten praktisch jeder deutschen Kommune künden von einem Einwanderungsland.
"Deutsch" ist es wohl auch, die Relationen zu verkennen. Denn die deutsche "Flüchtlingskrise" nimmt sich im Weltvergleich alles andere als außergewöhnlich oder gar außerordentlich gravierend aus. Pakistan beherbergt, auf das BIP pro Kopf in US-Dollar berechnet, 322 Flüchtlinge - nach einer weltweiten Statistik, die derzeit Äthiopien mit 469 Flüchtlingen pro Sozialprodukteinheit anführt. Der entsprechende Wert für Deutschland liegt bei 20. In anderen Weltregionen sind massenhafte Wanderungsbewegungen die schwierige Normalität - hierzulande werden idealisierte Vergangenheiten für normal erklärt. Nicht unsere Wertmaßstäbe werden an veränderte gesellschaftliche Verhältnisse angepasst, sondern die Verhältnisse haben bitte schön unseren Wertvorstellungen zu gehorchen.
Wenn eine Million Menschen im Jahr zu uns fliehen und dies auch für die mittelfristige Zukunft zu erwarten ist - sollten wir dann eine illusorische Begrenzung auf eine willkürlich festgelegte Zahl fordern, damit unser Volkskörpermaß-Index gewahrt bleibt? Oder uns vielleicht doch auch in unseren Breitengraden auf eine zukünftige Normalität der Armuts-, Kriegs- und Krisenwanderung einstellen?
Wahrscheinlich ist eine solche Anpassung leider nicht. "Riesenstaatsmänner" (F. J. Strauß) aller Couleur, die heute auf "Obergrenzen" als Lösung eines gesellschaftlichen Problems setzen, werden so viel sozialen Realitätssinn kaum aufbringen. Eher dürften sie demnächst auch noch mit Grenzziehungen beim zulässigen Gesamtgewicht ihrer Bürgerinnen und Bürger aufwarten. Also trinken Sie jetzt bitte nichts, denn Alkohol ist der Dickmacher schlechthin. Wobei der Bierkonsum in Deutschland seit Jahrzehnten sinkt, von 146 Litern pro Kopf 1980 auf nur noch 107 im Jahr 2014 - gegenüber 148 Liter Wasser und 162 Liter Bohnenkaffee. Irgendwie eine ernüchternde Bilanz.
Stephan Lessenich lehrt Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München.