VR-Szene:In der Manege der Möglichkeiten

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Alles möglich: Eine VR-Brille wartet auf der Cebit noch auf ihren Einsatz. (Foto: Friso Gentsch/dpa)

Virtual Reality war ein Zukunftsversprechen, doch nun ist die Technologie auf der Cebit angekommen.

Von Philipp Bovermann

Man findet ihn direkt neben unbemanntem Gebiet, der "Unmanned Systems Area", wo die Drohnen schwirren. Einsam sieht er aus, der VR-Benutzer an und für sich, mit seinem Brillen-Display vor dem Gesicht. Aber er ist es nicht, zumindest nicht hier. Auf der Computermesse Cebit in Hannover wurde vergangene Woche spürbar, was das aktuell wichtigste Projekt der jungen VR-Szene ist: eine Community zu werden.

Unter den Augen der großen Wirtschaft versteht sich. Die neu eingerichtete Sektion für Virtual Reality (VR) und Augmented Reality (AR) befindet sich in einem Teilbereich von Halle 17 Ost. Das ganze Areal ist kaum größer als ein einziger Messestand der Big Player. Das ist überraschend mickrig, wenn man bedenkt, wie heftig diese Technologie derzeit diskutiert wird. Dieses Jahr reden sie nun selbst, die jungen VR-Pioniere, und zwar in erster Linie miteinander. Zum Beispiel beim Netzwerktreffen der Organisatoren von "VR Meet-ups", die derzeit überall aus dem Boden schießen.

Was die Szene jetzt wirklich braucht? Vernetzung, eine Community

Das Treffen findet in einem schlecht belüfteten Konferenzraum am Rande der Ausstellungsfläche statt. Ein dürrer, hyperaktiver Lockenkopf führt das Wort. Der Holländer Daan Kip sieht aus wie ein Teenager, obwohl er bereits sieben Jahre im Finanzsektor hinter sich hat. Letztes Jahr hat er in einer ehemaligen Marinebasis in Amsterdam die "VR Base" gegründet, einen Co-Working-Space, der die noch immer recht teure VR-Hardware zur Verfügung stellt. Zugleich werden hier Kontakte zu Gleichgesinnten und Sponsoren gebündelt. Ableger in Paris und Barcelona soll es auch bald geben. Seit Oktober leitet die 26-jährige Sara Lisa Vogl eine "VR Base" in Berlin.

Was die Szene im Augenblick am dringendsten braucht, sagt sie, sei Vernetzung. "In den nächsten drei bis fünf Jahren wird für die meisten Start-ups in dem Bereich sowieso kein Geld zu machen sein." Früher wird sich nicht herauskristallisieren, welche technologischen Parameter sich durchsetzen. Dann erst werden die Investoren zuschlagen und diejenigen aufkaufen, die auf das richtige Pferd gesetzt haben. Die Zeit bis dahin ist eine Experimentierphase, und die "VR Base" möchte sie als solche nutzen. Um, wie Kip es formuliert, gemeinsam den Kuchen zu vergrößern.

Auf der Cebit formiert sich dieser Kuchen, das "VR Base Camp", um einen schwarzen Würfel. Freiwillige Helfer in schwarzen T-Shirts umschwirren ihn und setzen den anzugtragenden Besuchern die Brillen auf, geben ihnen die Controller in die Hand, starten die Programme. Im Inneren des Würfels befindet sich das Zimmer eines jungen Künstlers aus Berlin - genauer gesagt: das Zimmer in Berlin befindet sich im Inneren des Würfels, virtuell nachgebaut, versteht sich. Dort bemerkt der Besucher das Modell eines Oktaeders, von dem ein Stück fehlt. Es lässt sich aufheben und in seinen vorgesehenen Platz einfügen. Plötzlich bricht das Zimmer auseinander. Der Oktaeder schwebt nun als gigantischer Kristall in der Mitte eines endlosen Raums. Farbige Energieströme durchfließen ihn, lassen sich mit der Hand auseinander wedeln.

Ob man so Investoren überzeugt? Die VR-Pioniere geben sich jedenfalls alle Mühe. Kip führt eine Gruppe von Sponsoren der "VR Base" einmal im Karree durch den "Kuchen" und lässt jedes der Teams kurz ihr Projekt vorstellen, während er sie anfeuert, antreibt und alles "amazing" findet: Einer der "Cyber-Räuber" erklärt zum Beispiel - "Du hast 90 Sekunden! Go!" -, man müsse VR nicht vom Film, sondern vom Theater her denken. Die virtuelle Realität sei zunächst mal ein Raum, den es zu bespielen gelte. Kip ist begeistert, scheucht die Gruppe zum nächsten Stand. Dort berichten zwei Tüftler schwitzend, sie hätten eine 360-Grad-Videodrohne gebaut. "Awesome! Und weiter, go!"

Viele der Messestände, an denen die Tour Station macht, sehen aus, wie junge Menschen in Großstädten heute wohnen: Möbel gibt's keine. Dafür aber eine VR-Brille, Kopfhörer und Controller. Buchstaben aus neonfarbenem Klebeband an den Trennwänden verkünden, mit wem man es gerade zu tun hat.

Sara Lisa Vogl wird später sagen, die Messe laufe hervorragend. Sie habe nur keine Ahnung, was mit dem schwarzen Würfel anschließend passieren soll. Nachdem ihr Team das verdammte Ding dort irgendwie hingezimmert bekam, habe niemand mehr daran gedacht, dass es ja auch wieder weg muss. Die Container zur Entsorgung sind teuer. Ob sprengen nicht vielleicht eine Lösung sei? Vogl schüttelt den bemützten Kopf. "Wir können ja nicht die ganze Halle anzünden." Es klingt aus ihrem Mund wie eine sachliche Einschätzung, als könnte sie sich das durchaus als eine probate Lösung vorstellen. Also, unter gewissen Umständen. Na ja, vielleicht doch nicht. Legal wäre es auch nicht gerade.

Aber zumindest das mit den Zigaretten hat keiner mitbekommen. Oder vielmehr haben die Messeangestellten beflissen weggeschaut, als die "VR Base"-Leute nach Ende der Öffnungszeiten einfach blieben und über dem Biertrinken das Rauchverbot vergaßen. Vielleicht haben die Ordnungsbeauftragten es auch tatsächlich nicht bemerkt, weil sie jetzt, wo die Besucher weg waren, endlich in Ruhe "Tower Tag" spielen konnten. Gegenüber dem Bereich der "VR Base" hatten die "VR Nerds" mit ihrem neuen Multiplayer-Arcade-Spiel Stellung bezogen, in einer Mini-Version für vier Spieler.

"Tower Tag" ist eine Art virtuelle Paintball-Arena. Sie besteht aus Türmen mit Plattformen, deren Größe den Sensorfeldern der VR-Systeme entspricht. Ziel ist es, ballernd die meisten Türme für das eigene Team zu erobern, indem sich die Spieler lassoartig, mit einer ruckartigen Bewegung des Controllers, zwischen den Plattformen hin und her teleportieren, während ihnen das Feuer aus den Laserpistolen der Gegner um die Ohren pfeift.

Die "VR Nerds" planen, das Spiel an die VR-Arcade-Hallen zu verkaufen, die derzeit überall entstehen. Auch klassische Videospiele haben eine Arcade-Phase durchlebt, als die Technik noch zu teuer war, als dass man sie sich als Normalsterblicher ins Wohnzimmer holen konnte. Ebenso verhält es sich heute mit den VR-Systemen. Allein der Hersteller HTC plant bis Ende des Jahres rund tausend solcher Hallen weltweit, dazu kommen private Betreiber und andere Ketten, die Sache könnte sich für die "VR Nerds" also durchaus lohnen. Das Start-up aus Hamburg ist eins der wenigen - abgesehen von der Porno-Branche, versteht sich -, die mit VR bereits Geld verdienen. Weil sie wachsen und sich in verschiedenen Bereichen als Marke zu etablieren beginnen, mit ihrem gut informierten Blog zum Beispiel, bilden sie in der jungen Szene ein Gegengewicht zum Creative-Common-Flair der "VR Base".

Abends kommen die Anzugträger, trinken Bier - und schmunzeln. Tja, das sollen sie ja auch

Trotzdem gehören sie zu der "weirden Crew" (Vogl), die sich in Halle 17 abends zu Techno und Bier trifft: Künstler, die aussehen, als seien sie gerade aus dem Berghain gefallen, Wirtschaftstypen, die das nächste große Ding wittern, und Programmier-Nerds, die sich freuen, dass sie endlich mit Haut und Haar in ihre Computer einziehen können. Als Kulisse dienen die verwaisten Messestände der "ernsthaften" Anbieter von VR-Technologie, wo man tagsüber virtuell Gabelstapler fahren oder sich Unternehmensbroschüren anschauen kann, die virtuell zum Leben erwachen, wenn man das Smartphone darüber hält.

Diese Aussteller, oft Teilbereiche größerer Unternehmen, belegen ziemlich genau die andere Hälfte der Fläche neben der "VR Base". Im nächsten Jahr wird sich das Verhältnis verschoben haben. Es verschiebt sich bereits gefühlt, wenn sich abends die Anzugträger, die das Bier gesponsort haben, auf ein oder zwei Flaschen dazu stellen und wohlwollend schmunzeln: Sie sollen ruhig spielen, die jungen Leute.

Sie sollen ausprobieren, was funktioniert - und was nicht. Jeder ist aufgeregt, denn es sind die ersten, sozusagen virtuellen Flugversuche im Schwerkraftbereich der großen Wirtschaft. 2016 war VR noch die Zukunft. Dieses Jahr ist sie das Zirkuszelt der Cebit.

© SZ vom 27.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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