Vorschlag-Hammer:Rücksichtsloses Frohlocken

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Ein Barockmusik-Tsunami rollt heran: In Kirchen, Gemeindezentren, Altenheimsälen, Schulaulas und Scheunen wird derzeit getrommelt, gestrichen und gepfiffen bis zum Abwinken

Von Harald Eggebrecht

Mit der Adventszeit rollt unvermeidlich der Barockmusik-Tsunami heran: Plötzlich wird in allen Kirchen, Gemeindezentren, Altenheimsälen, Schulaulas, Scheunen und weiß der Himmel wo noch gejauchzet und frohlocket, getrommelt, gestrichen und gepfiffen bis zum Abwinken. Antonio Vivaldi, Arcangelo Corelli, Johann Sebastian Bach und Georg Friedrich Händel könnten, wären sie heute lebende Komponisten, allein von diesem Weihnachtsgeschäft ihrer Jahreszeiten, Oratorien, Weihnachtskonzerte und Ähnlichem reich werden. Und das nicht nur von Profisolisten, -sängern, -chören und -orchestern, sondern besonders von jenen stolzen Amateuren, die die Resultate (hoffentlich!) wochenlangen Übens und Probierens vorführen wollen. Nichts dagegen.

Dennoch ist diese rücksichtslose Benutzung von Barockmusik als per se weihnachtlich insofern irritierend, weil darin die Vorstellung mitschwingt, dergleichen Musik sei grundsätzlich heimelig, gemütlich, kuschelig - einfach schön ohne Haken und Ösen. Gegen solche widerstandlose Vereinnahmung würden sich die schon genannten Komponisten bestimmt wehren, denn sie meinten es ernst mit ihrer Musik, gerade auch dort, wo sie festlich und prächtig aufschäumt.

In den Opernhäusern gibt es ebenfalls dergleichen Unausweichlichkeiten: Engelbert Humperdincks "Hänsel und Gretel" gehört da zum eisern alljährlich wiederholten Bestand ebenso wie Peter Tschaikowskys "Nussknacker"-Ballett. Gewiss, auch hier gilt das Grundgesetz aller Musik: Jede Aufführung ist einmalig, jedes Mal entsteht das Stück neu, wenn es denn entsteht, was wieder von der Qualität und Sorgfalt der Präsentation, also vom Ernstnehmen der Partitur und ihren Anforderungen an die Realisierung abhängt.

Zum Glück hält das Nationaltheater gerade zwei scharfe mörderische Frauen bereit, damit das Publikum nicht ganz im Gemütvollen versackt: Dmitri Schostakowitschs "Lady Macbeth von Mzensk" (4./ 8. 12.) und Giacomo Puccinis "Turandot" (3./ 7. 12.). Und zum Glück beginnt Daniel Barenboim im Gasteig mit seinem vierteiligen Zyklus von Franz Schuberts Klaviersonaten (3./ 5. 12.). Da wird Musik erklingen, die keine falsche Sicherheit, keine Gemütlichkeit und Bequemlichkeit kennt, sondern konsequent vom Schmerz leidvoller Freude und freudlosen Leids kündet.

© SZ vom 03.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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