Vorschlag-Hammer:Kinokontemplation

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Die Willkürlichkeit, mit der im Kino meistens im Neunzig-Minuten-Rhythmus erzählt wird, verdankt sich der Regulierung des Spielplans. In München wird an diesem Wochenende dieses Zeitkorsett voll ignoriert

Von Fritz Göttler

Das Acht-Stunden-Kino von Berlin hat Furore gemacht auf der Berlinale im Februar, Ein Wiegenlied für ein schmerzensreiches Geheimnis , der philippinische Wettbewerbsbeitrag von Lav Diaz, 485 Minuten, ein Kinotag von zehn Uhr morgens bis in den Abend hinein. Vom großen Glück dieser Kinoerfahrung berichteten die Festivalkritiker danach und vom kleinen Stolzgefühl, dies durchgesessen zu haben.

Die Willkürlichkeit, mit der im Kino meistens im Neunzig- Minuten-Rhythmus erzählt wird, verdankt sich der Regulierung des Spielplans - bei dieser Länge kriegt man die meisten Vorführungen in einen Tag. In München wird an diesem Wochenende dieses Zeitkorsett voll ignoriert, das Kino als Ort der Kontemplation getestet. Das Filmmuseum zeigt die glorreich rekonstruierte Verfilmung von Victor Hugos Großroman Les Misérables/Die Elenden von 1925, alle vier Teile Samstag und Sonntag, jeweils 18.30 und 21 Uhr (Regie Henri Fescourt, Klavierbegleitung Neil Brand). Eine dramatische Geschichte, inklusive Straßenkampf in Paris, ein starkes Plädoyer für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, die Geburt des epischen Geistes aus der Liebe zum Detail. Auf den Straßen von Paris spielt auch Jacques Rivettes dreizehnstündiger Out 1 - Noli me tangere, der von Balzac inspiriert und von den revolutionären Ereignissen des Mai '68 bewegt ist. Rivette liebt seine Stadt und ihre Menschen, er will den Blick nicht wenden von ihnen, selten hat es eine solche Intimität gegeben zwischen ihnen und der Kamera (zweite Abteilung, am Montag in der Bayerischen Akademie der Künste).

Das schönste Stück des Wochenendes kommt aus China, Wang Bings Tie Xi Qu: West of the Tracks, 2003. Neun Stunden aus dem Zerfall des Industriezentrums Tie Xi im Nordosten, die alten Anlagen, die Arbeiter, die Züge - wichtig im Kino! - und sehr viel Schnee. Im Jubiläumsprogramm des Werkstattkinos am Sonntag. Wang Bing zieht los, trifft sich mit Leuten und filmt sie, und wenn ich, sagt er, zuvor eine Handlungsstruktur entwickeln würde, hätte ich den Film schon eingesperrt.

© SZ vom 08.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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