Vom Zauberlehrling zum Theaterschauspieler:Notwendigerweise nackt

Lesezeit: 4 min

Harry Potter nackt? Ja, er ist nackt. Aber Daniel Radcliffe ist inzwischen 17. In London feiert der ehemalige Zauberlehrling gerade ein fulminantes Theaterdebüt: "Es wäre Schrott, wenn ich mit Hose spielen würde."

Alexander Menden

Zwanzig Minuten vor Ende des Stücks geschieht es: Daniel Radcliffe, den alle nur als Harry Potter kennen, steht nackt auf der Bühne des Gielgud Theatre.

Zweifellos hat ein Großteil der Zuschauer wegen dieser Szene hergefunden, in eine zweieinhalbstündige Neuinszenierung von Peter Shaffers ,,Equus'', eines Psychodramas aus den siebziger Jahren. Kein Kichern ertönt, kein Johlen. Überhaupt gibt es keine der möglichen Reaktionen, die den Augenblick hätten peinlich erscheinen lassen können. Man wird vielmehr Zeuge einer jener zutiefst intimen Szenen, wie sie in seinen besten Momenten nur das Theater herstellen kann.

Rund 900 Menschen im ausverkauften Haus sind Zeugen der ersten Umarmung zweier Teenager. Alan, gespielt von Radcliffe, und Jill, dargestellt von Joanna Christie, haben sich in einen Stall zurückgezogen. Nackt stehen sie voreinander, unentschlossen. ,,Du bist... du bist sehr...'', stößt Alan hervor. ,,Du auch'', erwidert Jill ,,Komm her.'' Sie küssen sich.

"Du bist sehr ..." - "Du auch!"

,,Sie steckte ihren Mund in meinen. Es war wundervoll'', erzählt Alan dem Psychologen Dysart, der ihn in einer langen Gesprächstherapie dazu gebracht hat, die Ereignisse dieses Abends noch einmal zu durchleben. Ereignisse, die darin kulminierten, dass der entfesselte Alan sechs Pferden im Stall die Augen ausstach. ,,Diese Szene ist die physische und emotionale Klimax des Stückes'', hat Daniel Radcliffe in einem Interview gesagt. ,,Die wäre Schrott, wenn ich sie mit Hose spielen würde.''

Er hat recht: Die Nacktheit ergibt sich so notwendig aus dem Verlauf der Geschichte, dass man eher lachen würde, behielte Alan in dieser Szene seine Kleider an.

Die britischen Medien waren in heller Aufregung, als bekannt wurde, dass Daniel Radcliffe, Star der Harry-Potter-Filme, die Rolle des psychisch labilen Stalljungen übernehmen würde. In der Welt des kommerziellen Londoner West-End-Theaters besteht immer die Gefahr, dass Produktionen vom Trara um ihre Stars überschattet werden. Mit einigen Bedenken verfolgte man daher den wochenlangen Rummel um Daniel Radcliffe und seine Nacktszene.

,,Harry Potter zieht sich aus'', lautete der hechelnde Tenor der Vorberichte. Die voyeuristische Betonung dieser einen Szene ließ nichts Gutes erhoffen für Thea Sharrocks ,,Equus''-Produktion und erweckte den Eindruck, der mittlerweile 17-Jährige wolle sich durch öffentliche Nacktheit von seinem Zauberlehrlings-Image befreien. Dass ihn das Theater selbst reizen könnte, daran verschwendete kaum ein Kommentator einen Gedanken.

Respektables Revival

Mit ,,Equus'' gelang ,,Amadeus''-Autor Peter Shaffer 1973 der Durchbruch als Dramatiker. Die Uraufführung mit Peter Firth als Alan ist legendär. Das Stück erzählt in Gesprächen, Rückblenden und symbolistischen Tableaus die Geschichte einer Therapie: Martin Dysart, Leiter einer psychiatrischen Einrichtung für Jugendliche, nimmt Alan Strang auf. Nach und nach gelingt es dem Psychologen, dem Jungen dessen verstörende sexuelle Phantasien zu entlocken.

Darin taucht immer wieder der gottähnliche, pferdegestaltige ,,Equus'' auf, den Alan ebenso verehrt, wie er ihn verabscheut. ,,Equus'' ist Shaffers ambitioniertestes Stück. Er verbindet darin psychologischen Realismus mit expressionistischen Szenen und geht den Fragen sexuellen Erwachens und religiöser Besessenheit nach. Der psychoanalytische Kern des Werks überzeugt noch immer. Es ist Shaffers großes Thema, der Zwist zwischen dem Durchschnittlichen und dem Außergewöhnlichen.

Alan Strang, der hier das Außergewöhnliche repräsentiert, ist nicht nur Radcliffes erste Rolle in einer professionellen Theaterproduktion, es ist auch eine der anspruchvollsten, die sich ein Schauspieler seines Alters hätte aussuchen können.

Die Szene etwa, in der Alan, auf seinem Bett kniend den Pferdegott Equus anruft und sich mit einem Kleiderbügel züchtigt, könnte leicht ins Lächerliche umschlagen. Dass sie es nicht tut, ist der klugen, ihre Effekte behutsam und wirkungsvoll setzenden Regie Thea Sharrocks zu verdanken, und der Ernsthaftigkeit und Leidenschaft, mit der Daniel Radcliffe sich in seine Rolle wirft. In seinem Alan brodelt es.

Er übertönt mit pubertärem Trotz die Fragen des Psychologen, indem er Werbeslogans absingt. Er weiß nicht, wohin mit der Wahrheit. Zuweilen wirkt Radcliffe noch etwas starr, seine Bühnengestik unausgereift. Aber die Verve, mit der er sich gerade den heiklen Szenen stellt, lässt über technische Details hinwegsehen.

Die Pferde werden von Darstellern mit durchsichtigen Drahtmasken gespielt. Alans Interaktion mit diesen stilisierten Geschöpfen hat viele akrobatische Elemente, zugleich suggerieren sie eine sexuelle Spannung zwischen Mensch und Tier.

Viel gewagt - und viel gewonnen

Szenenwechsel erfolgen durch das Verschieben von vier schwarzen Schaumstoffblöcken im Zentrum einer kreisförmigen Spielfläche, von der sechs Türen abgehen. Für das wunderbar einfache Bühnenbild und die Pferdemasken zeichnet John Napier verantwortlich, der schon für die Uraufführung vor 34 Jahren die Ausstattung schuf. Die Zusammenarbeit der 29-jährigen Regisseurin Thea Sharrock mit Napier steht für eine Kombination von Jugend und Erfahrung, die sich auch bei der Besetzung hervorragend bewährt: Richard Griffiths, der Martin Dysart spielt, ist ein Mann mit annähernd 40 Jahren Bühnenerfahrung.

Fans der Potter-Filme dürfte er vor allem als dicker Muggle-Onkel Vernon bekannt sein. Er stattet den Psychologen mit einer kampfesmüden Nachsicht aus, an der Radcliffes feuerköpfiger Alan sich so lange abarbeiten kann, bis er bereit ist, sich seinen Dämonen zu stellen.

Wie Dysart im Laufe dieser Gespräche seinen Unzulänglichkeiten begegnet, wie er den Jungen letztlich um seine Vitalität beneidet, das zeigt Griffiths mit sparsamen Gesten, einer Neigung des Kopfes, einem langen Seitenblick. Er wird den Jungen heilen, aber er wird auch etwas in ihm töten: ,,Leidenschaft kann von einem Arzt nur zerstört, niemals erschaffen werden'', erklärt er am Ende verbittert.

An Daniel Radcliffes darstellerischer Leidenschaft jedenfalls kann kein Zweifel bestehen. Er hat viel gewagt und viel gewonnen mit dieser Produktion, die sich als bestes Londoner Revival eines modernen Klassikers in jüngerer Zeit entpuppt. Die Potter-Filme erlaubten Radcliffe, in einer Rolle zu wachsen. ,,Equus'' aber hat ihm die erste Chance eröffnet, an einer Rolle zu wachsen. Er hat sie genutzt.

© SZ vom 28.2.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: