Vermont:Überleben in Cardiff

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Täter werden Opfer in "Der Klügere lädt nach" von Castle Freeman. Die Stärke des Romans ist der pointierte Stil.

Von Stefan Fischer

Roark. Ein Name wie ein Brüllen. Ein Name auch wie ein Kotzgeräusch. Steve Roark war beim Militär, und er ist der festen Überzeugung, dass auch das zivile Leben am besten funktioniert, wenn es sich am Prinzip von Befehl und Gehorsam ausrichtet. Und er, der pensionierte Colonel, der seine gesamte Karriere im Pentagon verbracht hat, ist definitiv der Mann für die Befehle. Das findet zumindest Roark selbst. Auch wenn er nun nicht mehr für die Sicherheit des gesamten Landes zuständig ist, sondern nur noch für das Wohlergehen eines kleinen Sprengels im Nordosten der USA, als Vorsitzender des Gemeinderats von Cardiff, einem fiktiven Ort in einem waldreichen, dünn besiedelten County im Bundesstaat Vermont.

Die Alteingesessenen mögen einen wie Steve Roark nicht. So jemand wirbelt viel zu viel Staub auf. Einer der Einheimischen ist der Sheriff des Countys, Lucian Wing. Roark und Wing geraten schnell aneinander, zwischen ihnen verläuft der eigentliche Konflikt in Castle Freemans "Der Klügere lädt nach". Täter überführen, Täter verhaften, zielstrebig, hartnäckig und wenn es sein muss gnadenlos - und das muss grundsätzlich immer sein: Steve Roark ist ein Law-&-Order-Redneck, dem es stets auch ums Symbolische geht. In Sheriff Wings Vorstellung von öffentlicher Ordnung und gesellschaftlichem Frieden spielen Gefängnisse hingegen keine Rolle. Wenn er Lektionen erteilt, dann geschieht das nicht öffentlich.

Ein junger Kerl hat eine Hand verloren. In einer Ballenpresse, das ist die offizielle Version. Daran zweifelt jedoch nicht nur Roark. Später büßt ein zweiter Taugenichts ein Auge ein. Wing ermittelt nur schleppend, unter Druck gesetzt von Steve Roark: "Sie sind ein fauler, dummer, verantwortungsloser, unfähiger Blindgänger", wütet der Gemeinderat alsbald und strengt mit Hilfe seiner guten Kontakte eine interne polizeiliche Ermittlung gegen Sheriff Wing an.

Castle Freeman: Der Klügere lädt nach. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Verlag Nagel & Kimche, München 2018. 208 Seiten, 19 Euro. E-Book 14,99 Euro. (Foto: N/A)

Eine Fehlentscheidung, die auf einer Fehleinschätzung beruht, mangels Menschenkenntnis. Um die zu erwerben, hätte Roark sich jedoch irgendwann in seinem Leben einmal ernsthaft für den einen oder anderen Menschen interessieren müssen. Er erkennt nicht, dass der Verlust einer Hand und eines Auges bereits die Folgen von etwas sind - die drakonischen Strafen nämlich für Vergehen der beiden jungen Männer. Dass sie zu Opfern nur deshalb werden, weil sie vorher Täter waren. Und dass damit die Angelegenheit abgeschlossen ist. Für Wing und für seinesgleichen, die Männer aus den Wäldern von Vermont. Die es gewohnt sind, die Dinge selbst zu regeln.

Dieses Milieu ist das literarische Terrain von Castle Freeman. Der in Texas gebürtige 73-Jährige lebt lange schon in Newfane, Vermont. Er hat als Redakteur und Korrektor gearbeitet und spät angefangen, auch Essays, Short Stories und Romane zu veröffentlichen. "Der Klügere lädt nach" ist sein dritter Vermont-Thriller, nach "Männer mit Erfahrung" und "Auf die sanfte Tour". Freeman ist mit diesen sehr knapp und lakonisch erzählten Geschichten rasch international bekannt geworden. "Männer mit Erfahrung" ist unter dem Titel "Blackway" 2016 von Daniel Alfredson verfilmt worden, mit Anthony Hopkins, Julia Stiles und Ray Liotta. Der SWR wiederum hat die ersten beiden Fälle gerade als Hörspiele inszeniert, sie werden im April und Mai gesendet.

In "Der Klügere lädt nach" erfährt der spezielle Umgang mit Recht und Vergeltung noch einmal eine Zuspitzung. Denn diesmal ist Sheriff Lucian Wing persönlich involviert. Er hätte gut in den Wilden Westen gepasst, zu dem Vermont natürlich nie gehört hat. Aber die Menschen in der Einsamkeit Neuenglands haben offenbar einige von dessen Gesetzmäßigkeiten gerne übernommen. Unter anderem die, moralisch fragwürdig zu handeln, um diejenigen Regeln durchzusetzen, die der Mehrheit als richtig erscheinen.

Dazu sind Hartgesottenheit und Bauernschläue notwendig - und Geduld. Lucian Wing ist ein guter Pokerspieler, ein Stratege, der es durchaus darauf anlegt, unterschätzt zu werden. Er ist maulfaul und unaufgeregt, selbst angesichts einer neuerlichen Affäre seiner Frau Clemmie (weshalb Wing beinahe den gesamten Roman über in seinem Büro lebt). Sein Humor ist sarkastisch, mitunter bösartig. Wing sieht sich grundsätzlich in der Rolle des Überlegenen. Man hat als Leser wenig Anlass, daran zu zweifeln.

Dieser Tonfall ist eine wesentliche Stärke von Castle Freemans Stil: vermeintlich beiläufig und doch extrem pointiert erzählt er, mit einem sehr guten Gespür für das Unausgesprochene. Noch wortkarger als Wing selbst ist sein neuer Deputy, die erste Frau in diesem Job: Olivia Gilfeather. Ein Team aus zwei Einzelgängern, beide auf ihre Weise stur und in erster Linie ihrem persönlichen Regelwerk folgend. Man muss das können: überleben in den Ortschaften Vermonts und den sie umgebenden Wäldern. Einer extrem leisen, verschwiegenen Welt.

© SZ vom 06.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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