Verbot von Billers Roman "Esra":Die Kunstrichter von Karlsruhe

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Das Bundesverfassungsgericht hat ein spektakuläres Urteil gefällt: Der Roman "Esra" von Maxim Biller bleibt verboten. In seiner Begründung schreibt das Gericht vor, wie man künftig die Grenzen der Kunstfreiheit juristisch bestimmen soll - ein seltsames Unterfangen.

Heribert Prantl

Das Bundesverfassungsgericht hat ein ebenso spektakuläres wie vermessenes Urteil gefällt. Es hat den Roman "Esra" von Maxim Biller endgültig verboten. Und in seiner Begründung des Verbots schreibt es Methoden vor, mit denen man künftig die Grenzen der Kunstfreiheit juristisch bestimmen soll. Mit diesen Formeln sei festzustellen, wie viel künstlerische Autonomie und wie viel zulässiger Realismus in einem Roman stecken.

Das Gericht hat diese Messmethoden selbst angewendet, um Billers Roman zu prüfen - und es konstatiert nach seinem juristisch-literarischen Test: Zu viel Wahrheit über die ehemalige Freundin von Maxim Biller, zu viel Wirklichkeit und zu wenig Fiktion, also: zu wenig Kunst.

Damit hat das Gericht ein Verfahren der juristischen Titration entwickelt. So nennt man das chemische Verfahren, mit dem man den Essigsäuregehalt von Essig und den Weinsäuregehalt von Wein bestimmen kann. Der Chemiker nimmt dazu ein Glasröhrchen und gibt daraus tropfenweise eine Probelösung in die Flüssigkeit, die es zu analysieren gilt. Schlägt die Farbe der zu bestimmenden Flüssigkeit von Rot in Blau um, weiß der Chemiker, jetzt ist es genug.

Auf ähnliche Weise soll künftig gemessen werden, wie viel Kunst in einem Roman steckt. So wird nun künftig festgestellt, ob ein Buch, in dem wiedererkennbare Personen auf ihnen unangenehme Weise vorkommen, verboten werden muss, oder ob es sich bei dem Roman um Kunst handelt, der den Schutz der Kunstfreiheit des Grundgesetzes genießt. Die Richter stellen das zu prüfende Buch auf den Tisch wie der Chemielehrer einen Weithals-Erlenmayerkolben, und warten auf den Umschlag von Rot in Blau.

Jedesto-Formel

Die Richter haben Billers Roman also höchstrichterlich bemessen. Das darf jeder Leser. Er darf ein Buch begeistert, gelangweilt, verdrossen, verärgert oder angeekelt weglegen, er darf es in den Müllschlucker werfen oder der Altpapiersammlung übergeben; er kann all seinen Freunden abraten, es zu lesen, er darf es als widerlichen Exhibitionismus bezeichnen; das mag man dem Biller-Roman auch vorwerfen.

Die Richter in Karlsruhe waren aber keine normalen Leser. Sie haben das Buch nicht nur gelesen und bewertet, sie haben es verboten und aus dem Verkehr gezogen - weil es unlauter umgehe mit einer wiedererkennbaren Person, weil er diese Person verletzte, weil es "Esra" nicht entrücke in den Himmel der Kunst.

Als Grundlage für die Bewertung haben die Richter also eine juristische Formel dafür gefunden, wie diese literarische Entrückung angeblich funktioniert. Die Formel heißt "Jedesto". Schriftsteller werden sie sich künftig auf den Schreibtisch kleben müssen, wenn sie nicht umsonst arbeiten wollen; und Verleger sollten sie sich eingerahmt über den Schreibtisch hängen, wenn sie ihr verlegerisches Risiko vermindern und vermeiden wollen, dass ihre Bücher von Gerichten vom Markt genommen werden.

Diese Karlsruher Jedesto-Formel steht im vierten Leitsatz des Esra-Urteils: "Je stärker Abbild und Urbild übereinstimmen, desto schwerer wiegt die Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts. Je mehr die künstlerische Darstellung besonders geschützte Dimensionen des Persönlichkeitsrechts berührt, desto stärker muss die Fiktionalisierung sein, um eine Persönlichkeitsrechtsverletzung auszuschließen."

Anders gesagt: Je mehr Verfremdung, desto mehr Kunst, und desto geringer die Gefahr, verboten zu werden; je mehr Erkennbarkeit, desto größer die Beeinträchtigung, und desto größer die Gefahr des Verbots; und je mehr es um Intimes geht, desto mehr Verfremdung ist notwendig. Das ist eine quantitative Messmethode, die qualitativ schon dann in größte Schwierigkeiten kommt, wenn die beschriebene Person gerade die Verfremdung anstößig findet.

Die Verfassungsrichterin Christine Hohmann-Dennhardt und der Verfassungsrichter Reinhard Gaier erklären in ihrem abweichenden Votum, in dem sie sich von der Mehrheitsmeinung distanzieren: "Mit solch quantitativem Messen, an denen ein Abgleich des Romans mit der Wirklichkeit vorgenommen werden soll, wird man der qualitativen Dimension der künstlerischen Verarbeitung von Wirklichkeit nicht gerecht."

Kunst, so sagen die beiden Richter, "erschöpft sich nicht in der subjektiven Sicht auf Realitäten, sondern formt aus diesen eigene Welten, mit denen Anliegen des Künstlers ihren Ausdruck finden". Damit beziehen sie sich auf die Ästhetische Theorie von Adorno, in der es heißt: "Selbst Kunstwerke, die als Abbilder der Realität auftreten, sind es nur peripher, sie werden zur zweiten Realität, indem sie auf die erste reagieren." Die Mehrheit der Richter kennt nur eine Realität.

Das Freitags-Verbot aus Karlsruhe gegen den Roman "Esra" ist das erste höchstrichterliche Verbot eines Buches seit dem Jahr 1971. Damals traf das Verdikt "Mephisto. Roman einer Karriere" von Klaus Mann, ein Buch, das von der zwielichtigen Karriere einer Figur namens Hendrik Höfgen und von deren Aufstieg im Dritten Reich handelt.

Klaus Mann erklärte seinerzeit dazu, es handele sich nicht um ein Porträt von Gustaf Gründgens, sondern "um einen symbolischen Typus". Aber das half nichts; der Adoptivsohn und Alleinerbe des verstorbenen Schauspielers und Intendanten Gründgens erwirkte ein gerichtliches Verbot, und dieses wurde 1971 in der "Mephisto"-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bestätigt.

Zwei Sondervoten von drei Richtern

Damals machten sich die Richter zu Literaturkritikern wie folgt: Das "Abbild" Höfgen erscheine gegenüber dem "Urbild" Gründgens nicht ausreichend "verselbstständigt"; es fehle an der Ein- und Unterordnung in den Gesamtorganismus des Kunstwerks, sodass Persönlich-Intimes nicht zu Gunsten des Allgemeingültige und Zeichenhaften objektiviert sei.

Die Verfassungsrichter Erwin Stein und Wiltraud Rupp-von Brünneck wiesen damals in ihrem Minderheitenvotum vergeblich darauf hin, dass eine einseitig an der Realität orientierte Betrachtungsweise wohl einer Biographie oder Dokumentation angemessen sei, aber nicht einem Roman. Es gehöre, schrieben sie, zur Kunst, Reales mit Fiktivem zu "vermischen". Die Mehrheit der Richter des 1. Senats sah das damals anders - so wie heute wieder, bei Billers Roman.

Diesmal gibt es zwei Sondervoten von drei Richtern - das erwähnte Votum von Hohmann-Dennhardt/Gaier zum einen, das von Wolfgang Hoffmann-Riem zum anderen. Sie alle erklären die "Jedesto"-Formel für falsch und unpraktikabel: "Es ist ein Zirkelschluss", heißt es im ersten Sondervotum, "mit steigender Anzahl erkennbarer einzelner Daten von Personen die Kunstfreiheit zurücktreten zu lassen und dabei nicht nur eine Beeinträchtigung entdecken zu wollen, sondern auch ihre Schwere daran zu bemessen".

Und Hoffmann-Riem schreibt in seinem Dissenting: "Bei Geltung einer solchen Jedesto-Formel ist es schwer, ein Geschehen mit Anklängen an reale Vorgänge durch die künstlerische Transformation auf 'eine zweite Ebene' zu heben, und dadurch in den Genuss der Kunstfreiheit zu kommen." Er schildert die Schwierigkeit des Schriftstellers am aktuellen Fall: "Ein Autor, der, wie vorliegend, die betroffene Person aus eigenem sexuellen Erleben kennt, hat nach den Maßgaben der Mehrheit (Anm.; des Gerichts) praktisch keine Möglichkeit, die Darstellung von Sexualität so zu fiktionalisieren, dass der verfassungsrechtliche Schutz greift."

Hätte Goethes Briefroman "Die Leiden des jungen Werthers" nach der Jedesto-Formel verboten werden müssen? Die Richter Hohmann-Dennhardt und Gaier stellen diese Frage spitz in den Raum, das Mehrheitsurteil reagiert (auf Seite 48) pikiert.

In der Romanfigur Lotte erkannte sich bekanntlich, worauf das Sondervotum hinweist, Charlotte Buff wieder, in die sich Goethe während seiner Referendarzeit verliebt hatte. Und Buffs Ehemann, der sich in der Romanfigur Albert, dem Verlobten und späteren Ehemann Lottes, entdeckte, schrieb über Goethes Roman an einen Freund: "Lotte hat z.B. weder mit Goethe, noch mit sonst einem anderen in dem ziemlich genauen Verhältnis gestanden, wie da beschrieben ist. Dies haben wir ihm allerdings sehr übelgenommen, indem verschiedene Nebenumstände zu wahr und zu bekannt sind, als das man nicht auf uns hätte fallen sollen ... Lottens Porträt ist im Ganzen das von meiner Frau."

Was hätte Goethe machen müssen, um dem Verbot auszukommen, das ihm heute drohte? Das Verfassungsgericht rät: Die Schilderung von Intimbeziehungen bleibe "unbenommen ..., wenn dem Leser nicht nahegelegt wird, sie auf bestimmte Personen zu beziehen". Man kann sich den Spaß machen, den "Werther", ebenso wie "Dichtung und Wahrheit", Kellers "Der Grüne Heinrich" oder Fontanes "Jenny Treibel" mit der Jedesto-Formel zu prüfen. Es erschließt sich ein schier unerschöpflicher Born für germanistische Magisterarbeiten.

Grundrechte im Widerspruch

Das Verbots-Urteil ist in seinem ersten Teil eigentlich gar nicht so angelegt, dass es einen zu solchen Späßen triebe. Es stellt nämlich zunächst richtigerweise fest, dass die Kunstfreiheit "für ein literarisches Werk, das sich als Roman ausweist, eine kunstspezifische Betrachtung verlangt". Das Gericht will also zu Recht an einen Roman mit anderen Maßstäben herangehen als an eine Biographie oder an ein Sachbuch. Und es erklärt, dass man grundsätzlich erst einmal von einer "Vermutung für die Fiktionalität eines literarischen Werks" ausgehen müsse, auch wenn Personen darin erkennbar seien.

Das ist ein Fortschritt gegenüber dem Mephisto-Urteil. Aber dann wendet das Gericht die von ihm selbst angemahnte "kunstspezifische" Betrachtungsweise im konkret zu entscheidenden Fall, bei Esra, nicht an - und fällt mit der "Jedesto"-Formel noch hinter die Mephisto-Entscheidung zurück.

Das grundsätzliche Problem hinter dem Fall Esra ist sicherlich, dass hier zwischen zwei Grundrechten vermittelt werden muss, die miteinander in Konflikt geraten können: dem Persönlichkeitsrecht und der Kunstfreiheit. Das Verfassungsgericht statuiert in diesem Fall, dass die Kunstfreiheit hinter das Persönlichkeitsrecht zurückzutreten hat. Das liegt in einem Trend, der auch zu Lasten der Presse- und der Filmfreiheit geht.

Heute hat der Künstler weniger, wie in alten Zeiten, den Staatsanwalt zu fürchten, der wegen angeblicher Gotteslästerung oder Pornographie mit dem Strafrecht droht. Heute muss er den Rechtsanwalt fürchten, der mit Schmerzensgeld- und Verbotsklagen geltend macht, das "Persönlichkeitsrecht" seines Mandanten sei verletzt. Früher war Kunstgeschichte Zensurgeschichte. Diese Art der Zensur ist tot. Sie ist in neuer Form wieder auferstanden.

© SZ vom 13.10.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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