Vater-Roman:Der Erdnussgott

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Vater sein ist ja gar nicht so schwer, in Jochen Schmidts "Zuckersand" zumindest. Man muss nur aufpassen, dass nicht Greifvögel das Kind schnappen.

Von Jutta Person

Seit wir mit Karl leben, überraschen mich meine Angstfantasien. Manche Eltern stecken ihre Kinder in Winteranzüge mit Plüschöhrchen an den Kapuzen, das würde für uns nicht infrage kommen, weil ein Raubvogel ihn für ein Jungtier halten, vom Himmel herabstürzen und ihn entführen könnte." Der Vater, der in Jochen Schmidts Roman "Zuckersand" den Sohn durch den Großstadtdschungel schiebt - zuerst im Kinderwagen, dann auch mit Bobby-Car und Laufrad - dieser Vater ist ein pointensicherer Spaßvogel, einerseits. Aber das betrifft nur die Show-Seite, denn andererseits haben wir es mit einem verträumt schrulligen Berliner Kreativ-Wolkenkuckucksheimer zu tun, der die Brutpflege übernimmt, während die Freundin und Kindsmutter Klara einem soliden Job beim Denkmalamt nachgeht.

Der Kindsvater arbeitet eigentlich an einer Studie über Schönheit, schreibt aber vor allem Werbetexte für "Die neue Hausfrau", einen Katalog, dessen Produktpalette vom Sicherheits-Saughaken bis zu Zier-Bierfässern reicht. Gegenstände von trister Hässlichkeit, wo doch die Dingwelt das Lebensthema des sensitiven Bordstein-Checkers ist. Die Dinge, die sich schüchtern-schön am Wegesrand darbieten und von dort aus die Synapsen befeuern, sind die heimlichen Hauptfiguren dieses episodischen, der Kinderwagenfährte folgenden Romans: magische Gegenstände wie Pflastersteine, Rohre, Staubsauger, Haargummis, Lutscherstiele, Straßenreinigungsautos, Streusandkiesel und Rolltreppen. Oder auch, zu Hause angekommen, die Beißschiene der Freundin, der Nuckel des Sohnes, die eigenen Körpersäfte. Sie alle entwickeln ein animistisches Eigenleben, wie etwa der kaputte Röhrenfernseher, der "mit dem Gesicht nach unten" auf dem Trottoir liegt, oder das Gehirn des Icherzählers, von dem er annimmt, dass es "beim Drauftreten eine Staubwolke erzeugen würde wie ein Bovist".

Schon das Motto des Romans macht unmissverständlich klar: Das "wahre Geheimnis des Glücks", heißt es mit dem britischen Dichter, Sozialisten und Kunstgewerbler William Morris, bestehe "in einem echten Interesse an allen Einzelheiten des täglichen Lebens". Wer jetzt argwöhnt, dass hier ein einfältig dauerstaunender Objekt-Esoteriker am Werk sei, hat sich zum Glück getäuscht. Es ist nicht so, dass unterschiedslos sämtliche Partikel aus Gottes schönem Mikrokosmos verherrlicht würden. Jochen Schmidts Erzähler ist ein subtiler und vor allem ironischer Feinmechaniker, dessen Rohr- und Leitungs-Elogen ins Grotesk-Surreale ausgreifen.

Mehr Zeit für Kinder durch Teilzeitarbeit – und gleichzeitig eine Sicherheit haben, später wieder Vollzeit arbeiten zu können: Darum geht es in dem neuen Gesetzentwurf der Koalition. (Foto: imago)

Freuen sich Bauarbeiter darüber, dass sie mit strahlendblauen Riesenrohren arbeiten dürfen? Dass sie das wunderbare Geräusch hören können, "wenn Schutt durch eine Murmelbahn aus ineinandergesteckten Plastikrohrelementen nach unten rauscht"? Gerade in der unschuldig grinsenden Übertreibung liegt der Charme solcher Fragen. Überhaupt, das Universum des Rauschens und Röhrens, Klackens und Quietschens: eine dreiseitige Meditation über Staubsauger-Geräusche führt zurück in die Kindheit des Protagonisten, der sich an den Klang erinnert, den eingesaugte Weihnachtsbaumnadeln erzeugen. Und an eine wütende Mutter, die mit dem Staubsaugerkopf an die Kinderzimmertür stößt und sich darüber beschwert, dass ihr niemand bei der Hausarbeit hilft.

Die Kindheit, an die sich dieser notorisch tiefenentspannte Icherzähler erinnert, war eben anders glücklich. Wenn man hüpfen wollte, gab es höchstens alte Sessel, die jemand auf die Straße gestellt hatte. Eine trampolinlose Welt, in der die Rohre grau waren und nicht blau. Entscheidendes Detail: es geht um eine Ost-Kindheit, und bei Jochen Schmidt, Jahrgang 1970, ist das auf eine eulenspiegelhafte Weise unpolitisch. Über das Coming of Age in der DDR hat er immer wieder geschrieben, in seinen Romanen "Müller haut uns raus" und "Schneckenmühle", in dem Geschichtenband "Der Wächter von Pankow" oder zuletzt in "Drüben und Drüben", einem Doppel-Memoir, in dem David Wagner seine Bonner und Schmidt seine Ost-Berliner Kindheit schilderte.

Die Sehnsucht, die ihre Spuren durch den Zuckersand zieht, ist dabei weniger eine nach konkreter Familienhistorie, sondern hat vielmehr mit einem allumfassenden Nichts-Verlieren-Können zu tun. Dieser obsessive Sammler von Augenblicken, Materialzuständen und Konsistenzen kann kein Fitzelchen liegen lassen - und ähnelt darin seinem Sohn. Was den kleinen Karl angeht, kann es einem dabei schon mulmig werden. Wird er, von Helikopter-Eltern hemmungslos verzärtelt, zu einem jener wütenden Schreikinder heranwachsen, die ausrasten, wenn sie der Umwelt ihren Willen nicht aufzwingen können? "Ich wagte nicht, Karl anzusprechen, weil er sicher unwillig reagiert hätte", heißt es, wenn er vom Wasserhahn weg und hin zum Zähneputzen dirigiert werden müsste. Die zart ironische Pointe besteht aber darin, dass es gar nicht so sehr um den Sohn geht, oder zumindest: nicht nur. Vielleicht ist Karl eher ein Medium, das dem Vater eine zweite Kindheit ermöglicht. Über neue Väter und Mütter, Distinktions-Spielzeug und Verbürgerlichung ist ja schon viel geschrieben worden; diesem Vater ist das aber schnurz. Hier geht es wortwörtlich um Rekreation. Das Ich, das Dinge mag, die sich selbst enthalten - zum Beispiel bananenförmige Bananendosen -, erschafft sich selbst neu, indem es schiebt und schiebt.

Manchmal gibt es aber auch in der friedlichen "Zuckersand"-Clowneske einen ultrakurzen Zug ins Apokalyptische; wenn etwa Richard überlegt, welche seiner Fähigkeiten im Falle einer Trennung Karl dazu bewegen könnten, sich für ihn zu entscheiden; oder wenn er einfließen lässt, dass im Kinderspielplatz-Sand (dem Sand, der beim gespielten Kakaotrinken zum "Zuckersand" wird) einmal Rasierklingen versteckt waren. Bei solchen Ausflügen an den Rand der Idylle könnte man an Nicholson Baker denken, den amerikanischen Großmeister des Alltäglichen. In dessen Roman "Eine Schachtel Streichhölzer" kann sich der schlaflose, sonst so gemächliche Icherzähler eine Weile nur mit Selbstmordfantasien zum Schlafen bringen.

Nackte Angst, ob vor dem eigenen Versagen oder vor der Monstrosität der Welt, bleibt dem "Zuckersand"-Daddy im Grunde fremd; sein Abdriften in die Steampunk-Welt aus selbergebastelten Sohnbeglückungen ist nur im befriedeten Alltagsmodus möglich. Ach ja, Gott gibt es übrigens auch, vom Vater aus Knete geformt, als der selber ein Kind war. Gott "hatte die Form einer Erdnuss mit Armen und Beinen, große Kulleraugen und lächelte freundlich".

Es würde ja auch keinen Sinn ergeben, wenn der Gott der kleinen Dinge selbst etwas Großes wäre; eine kleine freundliche Erdnuss aber lässt man sich gern gefallen.

© SZ vom 24.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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