USA:Wer ist das Volk?

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"We, the people" (Wir, das Volk) sind die Anfangsworte der amerikanischen Verfassung. Derzeit stellt sich wieder einmal die Frage, ob damit wirklich alle gemeint sind. (Foto: Eduardo Munoz Alvarez/AFP)

Amerika muss Amerika werden, ein Land der Einwanderer, das sich von Rassismus und Überlegenheit befreit - dafür werden die nächsten Jahre entscheidend sein.

Von Sinan Antoon

Wir alle sind Einwanderer." Dieser Spruch wurde in der letzten Zeit in den Vereinigten Staaten oft skandiert. Oder auf Schilder geschrieben, um gegen Donald Trumps Muslim-Bann (das ist das Einreiseverbot für Bürger aus sieben Ländern) zu demonstrieren.

"Wir alle sind Einwanderer", sagt immer mindestens einer meiner Studenten, wenn wir an der New York University (NYU) über Fremdenhass und nationale Identität diskutieren. Dieser Studierende ist fast immer weiß und seine eigentlich positive Aussage hat leider den gegenteiligen Effekt. Denn unabhängig von der Absicht des Sprechers grenzt dieser Satz andere Erfahrungen und Geschichten einer amerikanischen Identität aus - oder er löscht sie ganz. Die ein, zwei farbigen Studierenden im Hörsaal erinnern ihre Kommilitonen dann an ihre eigenen Vorfahren und deren Reise nach Amerika. Diese verlief völlig anders und war oft grausam. Insgesamt sind nur 4,8 Prozent der Studierenden an der teuren Privatuniversität NYU farbig, 0,2 Prozent haben uramerikanische Wurzeln. Allein ihre Anwesenheit und ihre Ansichten könnten die simple Geschichte vom "Land der Einwanderer" erschüttern. Was von den amerikanischen Ureinwohnern in Manhattan bleibt, sind ihre Gräber, ihre Geister sowie die Spuren ihrer Existenz.

In der Tat leben in den USA viele Einwanderer oder deren Nachfahren. Die USA sind durch ihre Siedler und die Kolonisierung geprägt, das muss man wissen, um das derzeitige politische Klima zu verstehen. Der Gründungsmythos der USA wird in politischen Auseinandersetzungen erfolgreich und vor allem aggressiv eingesetzt: ganz gleich, ob in überarbeiteten, verschlüsselten oder in ausdrücklich rassistischen Variationen, Hauptsache, die überlegenen Weißen werden mobilisiert. Nach wie vor ist die Kraft dieses Gründungsmythos groß: Dies zeigt sich in Privilegien für einige wenige und in der Gewalt gegen andere, in der Polizeibrutalität gegenüber Farbigen und Latinos. Dass weite Teile der Bevölkerung Bewegungen wie Black Lives Matter ablehnen, obwohl diese gegen Gewalt eintreten und einen fundamentalen Wandel verlangen, ist eine weitere Folge.

Heutzutage lebt die Ideologie der ethnischen Überlegenheit besonders deshalb auf, weil sich die "überlegene Rasse" wirtschaftlich angeschlagen fühlt. Grund dafür ist die sich schnell ändernde Welt und der demografische Gesellschaftswandel. Es gibt immer einen "Anderen", dessen Nähe oder bloße Existenz zur Quelle oder zum Hinweis von Bedrohung und Gefahr werden. Das weltweite System eines räuberischen Kapitalismus hat die Menschen in wirtschaftliche Not gebracht, das politische System im Inneren funktioniert nicht. Beides verschmilzt nun und wird auf das Andere, insbesondere seine Kultur oder Religion projiziert - oder auch beides, wie im Falle des Islam.

Die Position des bedrohlichen und gefährlichen Anderen können Mexikaner, Muslime oder andere Andere einnehmen, wobei Donald Trump den größten Teil seines Rassismus den beiden Erstgenannten widmete. Nun löst er seine Versprechen ein, um sich die Unterstützung seiner politischen Basis zu sichern.

Der Politikwissenschaftler Samuel Huntington machte in den Neunzigerjahren die Idee des "Kampfes der Kulturen" - zwischen "Islam" und "dem Westen" populär, wandte sich in den darauffolgenden Jahrzehnten aber bezeichnenderweise vor allem der "hispanischen Herausforderung" zu. Die These des "Kampfes der Kulturen" schien mit dem 11. September ihre Rechtfertigung gefunden zu haben und bot ein intellektuelles Gerüst im Kampf gegen den Terror. Allerdings ging Huntington irrtümlicherweise davon aus, dass der Patriotismus nach dem 11. September 2001 abnehmen würde und es deswegen eines neuen Feindes bedurfte.

Weißer Nationalismus und Überlegenheitsdenken ziehen sich durch alle Klassen

In seinem Buch "Who Are We: Die Krise der amerikanischen Identität" schreibt er:

"Der anhaltende Zustrom hispanischer Einwanderer droht die Vereinigten Staaten zu spalten: in zwei Völker, zwei Kulturen und zwei Sprachen. ... Es gibt keinen Americano Dream. Es gibt nur den amerikanischen Traum, der von der anglo-protestantischen Gesellschaft kreiert wurde. Mexikanische Amerikaner werden diesen Traum nur dann träumen und dieser Gesellschaft nur dann angehören, wenn sie auf Englisch träumen."

Alle Einwanderer sollten gleich sein, aber leider sind manche gleicher als andere, wie George Orwell es formulierte, dessen dystopischer Roman "1984" endlich wieder in den USA gelesen wird. "Anglo-protestantisch" bedeutet einfach "weiß", und Trumps rassistische Aussagen über Mexikaner während des Wahlkampfes waren eine direkte Übersetzung des intellektualisierten Rassismus von Huntington. Weißer Nationalismus und Überlegenheitsdenken ziehen sich durch alle Klassen und Bereiche. Trump mag schockierend klingen, aber er ist kein Sonderfall. Er verstärkt nur Strömungen und Ansichten, die schon immer da waren.

Fremdenfeindliche Meinungen und Politik sowie fanatischer Fremdenhass gehörten schon immer zum weißen Nationalismus. Man erinnere sich nur an die empörenden Strategien gegenüber jüdischen Nazi-Flüchtlingen oder an die Inhaftierung von 120 000 japanischen Amerikanern in der Zeit zwischen 1942 und 1946.

Nach Angaben des Southern Poverty Law Center wurden in den USA allein in den drei Wochen nach Trumps Wahlsieg mehr als 800 Hassverbrechen verübt. Nazigrüße auf Klassenfotos, Hakenkreuze an Wänden und auf öffentlichen Verkehrsmitteln, eine in Brand gesteckte Moschee sowie Angriffe auf Einwanderer oder jene, die auch nur so aussehen. Wenn nun die Anhänger Trumps mit Begeisterung "Make America great again" schreien, wissen wir, welches Amerika sie meinen: ein Amerika des weißen Nationalismus, der weißen Privilegien und der weißen Macht.

Trotz aller Differenzen sind Trump und Hillary Clinton einer Meinung, wenn es um den Kern des nationalen Mythos von der Größe Amerikas geht. Barack Obama und Clinton reagierten auf Trumps Formulierung "Amerika muss wieder groß werden" mit dem Slogan "America has always been great": "Amerika ist schon immer großartig gewesen".

Die Not der Familien in der Arbeiterklasse oder der unteren Mittelschicht war während Obamas Amtszeit für viele unsichtbar und irrelevant. Dies galt vor allem für die Elite und den Großteil der Demokratischen Partei, einst die Partei der Arbeiterklasse, nun aber enger verbunden mit Hollywoodstars, Konzernchefs und Millionären. Clinton, eine der korruptesten und unpopulärsten Politikerinnen, verhieß sogar noch eine Steigerung dieser Entwicklung. Ihrer Auffassung nach war der Neoliberalismus völlig in Ordnung, obwohl er bereits in den Neunzigern wirtschaftliche Probleme gebracht hatte, ein paar Änderungen genügten. Vielleicht erklärt dies, warum so viele Wähler desillusioniert waren und für keinen der beiden Kandidaten stimmten. Die Kluft zwischen dem idealen und dem realen Amerika ist heute größer denn je. Trotzdem sollte es das Amerika möglichst vieler Amerikaner sein.

Die nächsten Jahre werden entscheidend sein

2004 wählten die Wahlkampfverantwortlichen des damaligen Senators John Kerry diesen Slogan: "Lasst Amerika endlich Amerika werden/ Lasst es den Traum sein, den viele geträumt haben." Er sollte die Wähler dazu bringen, ihr Land wieder aufzurichten, nachdem George W. Bush es mit seinen desaströsen Strategien aus dem Tritt gebracht hatte.

Die Zeilen wurden zum Skandal. Ihre Autoren hatten sie entweder falsch verstanden oder das zugrunde liegende Gedicht nicht zu Ende gelesen. Es stammte von dem farbigen Dichter Langston Hughes aus dem Jahr 1938 und feierte eben keinen American Dream, der in der Vergangenheit geträumt wurde und nun wiederbelebt werden sollte. Hätte man den Rest des Gedichts gelesen, hätte man erfahren, dass der Dichter, wie viele andere auch, ein Amerika gesehen und erlebt hatte, das die meisten nur aus Erzählungen kennen. "Amerika war niemals Amerika für mich", darauf bestand Hughes. In seinem Gedicht geht es um die Menschen, die immer schon vom amerikanischen Traum ausgeschlossen waren, die entmündigt wurden und den Mythos Amerikas infrage stellten.

"Ich bin der arme Weiße, der betrogen und herumgestoßen wird,

ich bin der Schwarze, der die Narben der Sklaverei trägt,

ich bin der Rote Mann, der von seinem Land vertrieben wurde,

ich bin der Einwanderer, der sich immer noch an seine Hoffnung klammert.

Wir alle teilen das gleiche Los, denn hier kämpft jeder gegen jeden,

und die Mächtigen zermalmen die Schwachen."

Einige Rechte kritisierten die Kerry-Kampagne damals für die Wahl des Gedichts. Sie wiesen auf die kommunistischen Neigungen des Dichters hin. Hughes war kein Kommunist, veröffentlichte jedoch Texte in kommunistischen Blättern und reiste in die Sowjetunion. 1953 wurde er vor das berüchtigte Komitee für unamerikanische Umtriebe gerufen. Später distanzierte er sich vom Kommunismus. Die Einschüchterung hatte Wirkung gezeigt.

Würde Hughes heute noch leben, hätte es ihm das Herz gebrochen, dass nach so vielen Jahrzehnten wieder und immer noch ein weißer Nationalist die Ängste so vieler Menschen ausnutzt, um ein Amerika wiederzubeleben, das für manche der Himmel auf Erden, für viele jedoch ein Albtraum gewesen ist.

Die nächsten Jahre werden entscheidend sein. Wird das "Wir" aus "Wir, das Volk" uns alle einschließen, oder wird sich herausstellen, wer "gleicher als andere" ist, wie damals, als Amerika noch groß war? Bleibt zu hoffen, dass die Mobilisierung der Massen und das Gefühl der Dringlichkeit, das überall auf der Welt zu spüren ist, stark genug sind, um eine echte Linke zu bilden.

Bis dahin lohnt es sich, die letze Strophe von Hughes' Gedicht zu lesen, als weltliches Gebet, das den emotionalen Moment mit der Hoffnung im anstehenden Kampf gegen den Faschismus verbindet.

"Ich sag euch,

Amerika war nie mein Amerika,

aber ich schwöre euch,

jetzt endlich wird es mein Amerika werden.

Die Gangster werden in rauchenden Ruinen sterben,

und aus dem Sumpf der Korruption, der Täuschung und der Lügen

werden wir, das Volk, uns unser Land zurückholen,

die Bergwerke, die Fabriken, die Flüsse,

die Berge und die endlosen Ebenen.

Unser ganzes, großartiges, grünes Land

wird endlich unser Amerika werden".

Sinan Antoon, geboren 1967 als Sohn eines irakischen Vaters und einer amerikanischen Mutter, lebt seit 1991 in den USA. Auf Deutsch erschien von ihm "Irakische Rhapsodie" (Lenos-Verlag ). Derzeit ist er Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Aus dem Englischen von Natalie Broschat

© SZ vom 23.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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