Uraufführung per Streaming:Unverhoffte Entdeckung

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Lange blieb das Werk des Komponisten Hans Winterberg unbekannt. Nun wird es hörbar und entpuppt sich als Beitrag zur Musik des 20. Jahrhunderts.

Von Reinhard J. Brembeck

Peter Kreitmeir, Jahrgang 1955 ist Goldschmied im oberbayrischen Murnau. Er kann keine Noten lesen, hat Schlagzeug gespielt, sich für die Beatles und Jacques Loussier begeistert. Aber nicht für klassische Musik. Das hat sich in den letzten zehn Jahren grundsätzlich geändert. 2011 steckte Kreitmeir in einer Lebenssinnkrise und seine Therapeutin meinte, er solle sich mal mit seiner Familiengeschichte beschäftigen. Und so ist Kreitmeir ungeplant zu einem nicht studierten Zeitgeschichtler geworden. Er hat seinen ihm und der Welt bis dato unbekannten Großvater Hans Winterberg (1901-1991) entdeckt, einen Prager Juden und Komponisten, von dessen Musik zu Lebzeiten keine Note gedruckt wurde. Die Lebensgeschichte dieses Großvaters ist genauso spannend wie seine Musik.

Jetzt, zehn Jahre und zwei CD-Aufnahmen später, kommt Winterbergs postume Karriere allmählich in Gang. An diesem Montag spielt die Pianistin Brigitte Helbig in München ein Winterberg-Recital nur vor Onlinepublikum, das auch die Uraufführung seiner 1.Klaviersonate von 1936 einschließt. Dass die Veranstaltung innerhalb der Reihe "Klavier Salon München" stattfindet, einer Initiative des Schwabinger Tonstudios Polyester, hat viel mit dem verschlungenen Lebenslauf Winterbergs zu tun.

Winterberg, der ab 1938 Zwangsarbeit leisten musste, kam kurz vor Kriegsende ins KZ Theresienstadt (er hat 1945 eine "Klaviersuite Theresienstadt" komponiert) und emigrierte dann nach Deutschland an den Ammersee. Der Komponist, der Zeit seines Lebens keinen Führerschein hatte, arbeitete am Richard Strauss Konservatorium und für den Bayerischen Rundfunk (BR), den er gelegentlich für das Fahrgeld nach München anging. Die Münchner Philharmoniker führten einige von seinen Stücken auf, die Aufnahmen liegen beim BR.

Hans Winterberg muss ein ausgezeichneter Pianist gewesen sein

Peter Kreitmeir hat mittlerweile ein Winterberg-Werkverzeichnis mit gut 200 Einträgen erstellt, die Hälfte davon sind große Konzertstücke, es sind aber auch Gelegenheitskompositionen darunter wie eine Larifari- und eine Faschingspolka. Das alles war verschollen und tauchte an zwei ungewöhnlichen Orten auf. Kreitmeir entdeckte einen Teil der Stücke in zwei Kartons mit Wasserschäden, die in einem Keller von Winterbergs zweiter Ehefrau standen. Dazu gehört auch die 1.Klaviersonate, die nun uraufgeführt wird. Skurriler aber ist, dass Kreitmeir den Großteil von Winterbergs Partituren im Sudetendeutschen Musikinstitut in Regensburg entdeckte. Es ist eine absurde Ironie, dass der Jude Winterberg nicht nur vergessen, sondern zudem als "sudetendeutscher Komponist" gelistet war.

Der jüdische Komponist Hans Winterberg (1901-1991) wurde im Archiv als "Sudetendeutscher" geführt, sein Nachlass war gesperrt. (Foto: Kreitmeir/privat)

Kreitmeirs Mutter, Winterbergs 1936 geborene Tochter, hatte Vater und Sohn früh verlassen, da gab es keinen Kontakt. Zufällig entdeckte er das Foto eines Hans Winterberg in einem Buch über den Rundfunk in der Tschechoslowakei. Der Herausgeber des Bandes verwies ihn auf das Musiklexikon der Sudetendeutschen, in dem Winterberg als sudetendeutscher Komponist geführt wurde. Denn Winterbergs vierte und letzte Frau war eine Sudetendeutsche. Ihr Sohn aus einer früheren Ehe, den Peter Kreitmeir mehr oder weniger deutlich als einen Nationalsozialisten bezeichnet, habe den Nachlass im Jahr 2000 für 6000 Mark an das Institut verkauft, unter Auflagen: Winterberg müsse als Sudetendeutscher gelten, sein Judentum verschwiegen werden. Zudem war der Nachlass bis 2030 gesperrt. Doch hat Kreitmeir die Vollmacht erhalten, diese Sperre aufzuheben. Zu diesem Teilnachlass gehören fünf Klaviersonaten, drei Klavierkonzerte, zwei Sinfonien, Sinfonische Tänze, viel Klaviermusik.

Über die frühen Jahre Winterbergs in Prag hat Kreitmeir nicht viel herausgefunden, allzu dürftig ist die Quellenlage. Das musikalische Umfeld in dem Winterberg aufwuchs, liest sich wie ein Best of des Prager Musiklebens vor 1945. Winterbergs Vater, ein Laiensänger, hat einmal bei Gustav Mahler vorgesungen, der 1885/86 an der Prager Oper arbeitet. Mahler hätte den Mann schon für seinen Profichor genommen, der aber wollte nicht. Worauf ihn Mahler einen "vernünftigen Mann" nannte. So wurde Winterberg der erste Berufsmusiker der Familie.

Winterberg muss ein ausgezeichneter Pianist gewesen sein. Er studierte Dirigieren bei Hans Zemlinsky, dem Schwiegervater Arnold Schönbergs, bei Fidelio Funke Komponieren. Winterberg arbeitete als Theaterkapellmeister in Brünn und Gablonz sowie (wie Franz Kafka) in einer großen Versicherung. 1939/40, da musste Winterberg bereits Zwangsarbeit für die Nazis leisten, studierte er bei Alois Hába, dem Pionier des Mikrointervallkomponierens. Sein Kommilitone war der von den Nazis 1944 ermordete Gideon Klein, Winterbergs Verwandte wurden ebenfalls alle in den KZs ermordet. Dass er selbst mit einer Sudetendeutschen verheiratet war, schützte ihn vor dem KZ zumindest bis zur Zwangsscheidung 1944, danach kam er im Januar 1945 nach Theresienstadt.

Nach der Wiederentdeckung durch seinen Enkel wird an diesem Montag Winterbergs erste Klaviersonate uraufgeführt. (Foto: Hans Winterberg)

Im Jahr 1930 fand in der Tschechoslowakei eine Volkszählung statt, bei der die Menschen ihre Nationalität angeben mussten. Winterberg kreuzte "tschechisch" an, seine erste Frau "deutsch". Dieser Zensus war die Basis für die Aussiedelung der Sudetendeutschen nach dem Weltkrieg. Winterbergs Frau musste gehen, sie nahm einen Teil der Kompositionen ihres Mannes mit, Winterberg musste als Tscheche bleiben. Die Ausreise ermöglichten ihm dann seine Kompositionen, er durfte ihnen nachreisen.

Nie verlässt die Musik Hans Winterbergs die Regionen der Tonalität

In München traf er einen Bekannten aus Prag. Der Dirigent Fritz Rieger hatte wie Winterberg bei Fidelio Funke studiert, war an den beiden Opernhäusern Prags tätig gewesen. Nach dem Münchner Abkommen trat er in die NSDAP ein, was seine Karriere beförderte. Als Chef der Münchner Philharmoniker von 1949 bis 1966 führte er mindestens die Klavierkonzerte Nr. 1 und 2 sowie die 1.Sinfonie seines früheren Kollegen Hans Winterberg auf. War das die Wiedergutmachung eines Nazis an dem Juden Winterberg? Oder war Rieger von der Qualität dieser Stücke beeindruckt? Möglich, dass beides eine Rolle spielte.

Ebenfalls denkbar ist ein kulturkonservatives Moment. Winterbergs Musik ist stark rhythmisch geprägt, durch die so fantasievoll wie streng gehandhabte traditionelle Motivarbeit ist sie mit der bei Johann Sebastian Bach beginnenden großen deutschen Komponiertradition verbunden, lässt zudem immer wieder Anklänge an böhmische Folklore, Neoklassizismus und Impressionismus erkennen.

Vor allem verlässt sie nie die Grenzen der Tonalität. Das macht Winterberg zu einem Antagonisten der Avantgardisten wie Pierre Boulez oder Karlheinz Stockhausen. Früher wurden solche alternativen Ansätze nur von Wertkonservativen geschätzt. Mittlerweile aber ist auch in musikalisch aufgeschlosseneren Kreisen eine Sensibilität aufgekommen für die Qualitäten eines solchen Komponierens. Und Hans Winterberg, das haben Peter Kreitmeirs Forschungen gezeigt, gehört sicher zu den interessanteren Vertretern dieser lang vernachlässigten Richtung.

Kreitmeir hat nicht nur die Familiengeschichte aufgearbeitet, er entdeckte nach und nach auch die Musik seines Großvaters, für die er sich so sehr begeisterte, dass er zwei CD-Aufnahmen initiierte, und auch Konzerte. Dazu gehört der Winterberg-Abend mit der Pianistin Brigitte Helbig an diesem Montag in München, der von 20 Uhr an als Streaming zu hören sein wird, auf youtube wie bei facebook unter Klavier Salon München.

© SZ vom 20.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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