Unsere Zukunft im Netz (2):Die Jugend als Dateileiche

Lesezeit: 4 min

Wir schreiben das Jahr 2010, die Menschen sind ins Internet ausgewandert. Im zweiten Teil unserer Zukunftsvision berichtet eine digitale Spießerin aus der neuen Heimat.

Alex Rühle

Oh... Was wollen Sie denn hier? Können Sie nicht ordentlich anklicken, bevor Sie reinkommen? Hab Sie gar nicht bemerkt. Müssen so ein grobklotziger "User" sein, von denen hier oft die Rede ist. Einer von draußen, was? Glauben wohl, Sie sind was Besseres, hm? Was glotzen Sie denn so? Einfach so aus einem halben Meter durch den Bildschirm starren, machen Sie das bei analogen Leuten auch so? Außerdem hab ich wirklich keine Zeit, muss mich noch reinigen für mein Up-Date, wir wollen mit ein paar befreundeten Dateien aus dem Nachbarordner ins YouTube gehen, neue Clips schauen.

Okay, Sie gehen ja doch nicht, also ganz kurz, aber dann müssen Sie wirklich weitersurfen. Ich kann Ihnen jetzt nicht alles erzählen, schauen Sie sich einfach um, ist hübsch hier bei uns auf der Festplatte, sehr nette Nachbarn, gleich die Datei nebenan, das war früher ein Musikprofessor. Reizend. Ich bin die Kopie einer Kopie einer Datei, die 2010 durch das Übersiedeln einer analogen weiblichen Unit entstand. Und das Summen, was Sie hören, das war früher mal mein Mann.

Es ist so: Wir müssen einander hier gegenseitig verwalten. Man wird upgedatet und die alte Version wird in den Papierkorb geschoben. Ich liebe diese fremdartigen Wörter. Papier. Korb. Als das, was früher mein Mann war, upgedatet wurde, hat er sich furchtbar aufgeführt, man nehme ihm seine Erinnerungen, es war mir sehr peinlich vor all den anderen Dateien hier bei uns auf dem Rechner. Und was war? Er wurde gereinigt, seither summt er leise vor sich hin, ich sag immer, man kann auch im Alter dazugewinnen.

Ach so, der Geruch, ja, das tut mir leid, diese Nacht wurden an den Outskirts der Festplatte wieder vier Dateileichen gefunden. Ich sag mal: Nicht so schön. Eigentlich löscht man sich hier einfach irgendwann diskret selber, indem man sich in den Papierkorb schiebt. Dort hat man dann noch einige Zeit, es sich anders zu überlegen und sich wiederherzustellen, aber das passiert eigentlich recht selten, muss schön sein da drin. Aber die Jugend von heute verräumt sich einfach nicht mehr und lässt sich stattdessen als Dateileiche gehen. Nicht so schön.

Sizilien statt Silizium!

Ansonsten ist bei uns alles tadellos, ich sag mal, hier ist immer was los. Vor kurzem haben wir von der Festplatte aus einen Ausflug gemacht, wir wollten ans Ende des Internets. War aber ehrlich gesagt enttäuschend. Da ist tatsächlich so eine Wand, beklebt mit alten Zeitungen, auf die hat jemand mit Pinsel geschmiert: "Hier is zuende". Daneben ein gammeliger Kiosk. Wer hätte gedacht, dass das so banal ist. Ich hatte mit allem gerechnet, Möbiusband, Raumkrümmung, schwarze Löcher, Unendlichkeit, aber ein Kiosk, an dem es die neue c't gab, und über der Verkaufstheke die Aufschrift: Letzter Kiosk vorm Ende des Internets, das war zuviel. Kann man doch bisschen schöner machen.

Naja, ich versteh eh vieles nicht. Seit kurzer Zeit ist so eine komische Stimmung überall. Sie reden was von kollektivem Heimweh und von Phantomschmerz. Ich sag mal, Querulanten gab es immer schon, die sagen, sie wollen wieder gehen. Sogar hier auf unserer Festplatte wohnen zwei alte Zausel, typische Webzwonull-Veteranen, die immerfort von Selbstbestimmung faseln und dass sie wieder rauswollen. Geht doch rüber, sagen wir ihnen, schaut doch, ob's da draußen besser ist. Unser Datenbeauftragter hat diesen Netzbeschmutzern sogar extra einen Zugang verschafft zu den Lebcams, die die Admin draußen installiert hat. Die zwei sitzen jetzt jeden Tag stundenlang davor und schauen sich irgendwelche leeren Gegenden an. Das kann doch nicht gesund sein.

Bisher waren das Sonderlinge, für mich klarer Fall von Virenbefall. Aber seit einiger Zeit ist das anders. Wenn ich bei unserem Ordner zur Tür rausgehe und dann runter auf die Leitung - da draußen brodelt es. Die Dateien glucken immer öfter auf Zentralservern zusammen, oder treffen sich auf Flickr, wo sie einander Bilder zeigen von früher, von draußen, schau, da komm ich her.... Wenn ich dann im Pixelpark spazierengehe, bilden sich da immer größere Gruppen um die älteren Modelle. Die erzählen zwar eh immer denselben Stiefel, von der Luft beispielsweise, die es draußen gab. Oder vom Licht. Von der Fremdherrschaft durch die Rechner. Und dann labern sie wieder vom Ausbrechen aus den verkupferten Strukturen und skandieren "Sizilien statt Silizium!". Gut, ich mach auch manchmal den Bildschirm auf und lass Licht rein. Ist anders als das LCD, freundlicher. Aber das heißt doch noch lange nicht, dass ich da raus gehe.

Wobei, einmal habe ich mich ja überreden lassen. Es war furchtbar. Grauenhaft! Allein die sogenannte Schwerkraft. Man ist völlig platt nach kürzester Zeit. Außerdem gibt es da draußen Wetter. Ich dachte, das sei eine Erfindung unserer Propagandaabteilung. Von wegen. Es ist unglaublich heiß. Man kann da draußen auch nasswerden, ganz plötzlich. Dann immer diese Dunkelheit, die periodisch von irgendwoher kommt und fast genauso lange dauert wie die Helligkeit.

Der Hintergrund verliert plötzlich seine blaue Farbe, wird erst merkwürdig orange an den Rändern und dann dunkel, mit schwach glimmenden Dioden drin. Als würde der Hintergrund abstürzen. Aber ich muss sagen: Das Blau über einem, wenn es hell ist, mein lieber Herr Gesangsverein, ist das schön. Das Verrückteste war aber dieser sogenannte Schlaf, der einen da draußen regelmäßig überkommt. Als hätte man Virenbefall, die Informationspakete werden wild durcheinandergerührt, man denkt hochgradigen Unsinn. Naja, wem erzähle ich das, wissen Sie ja besser als ich.

Wobei ich mich ja eh schon die ganze Zeit frage, wer Sie eigentlich sind. Ja, Sie, der Spanner vorm Schirm. Ich will nicht unhöflich sein, aber eigentlich müssen Sie ein analoger Irrtum sein, Sie dürft's nämlich gar nicht mehr geben. Aber so grobklotzig, wie Ihr da draußen strukturiert seid, merkt Ihr wahrscheinlich nicht mal das. Na wurscht, ich muss jetzt los, kommen Sie halt wann anders wieder vorbei, wenn's sein muss. Ich bin dann mal web.

© sueddeutsche.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: