Ungarn:Das Karussell der Spione

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In seinem neuen Roman "Die Mantel-und-Degen-Version" fährt Péter Esterházy mit der ungarischen Geschichte Schlitten - in einer Kutsche. Auf der Strecke bleibt dabei der Opfer-Mythos.

Von Ulrich Rüdenauer

Blij zijn" - sich freuen. Diese zwei Worte stehen auf dem eisbeblumten Fenster der Kutsche, die auf der zweiten Seite durch Péter Esterházys neuen Roman "Die Mantel- und Degen-Version" holpert. Wir befinden uns im 17. Jahrhundert. Die Diamant-Intarsie eines Rings dient dem Scheiben-Graveur als Utensil. Sich freuen also! Damit könnte man beginnen, denn auf gewisse Weise hat die Fensterinschrift etwas Programmatisches: Sie bleibt den Protagonisten im Buch ein frommer Wunsch. Allerdings darf man sich als Leser an der Lektüre dieses verwirrenden Buches erfreuen. Aber davon später.

Man könnte nämlich auch ganz anders anfangen. Etwa mit dem Lachen des Autors auf dem Klappenfoto, das einen durch das ganze Buch hindurch begleiten wird. Péter Esterházy schaut so drein, als würde er sich über den heiligen Ernst seriöser Schriftsteller-Porträts schon mal von vornherein lustig machen wollen. Man kann sich, mit dieser Fotografie vor Augen, ungefähr vorstellen, wie er sich beim Schreiben seiner "Mantel- und Degen-Version" - bei aller Ernsthaftigkeit des Sujets - amüsiert hat. Der Gegenwart ist manchmal nicht anders beizukommen.

Der liebe Gott streichelt seine schizophrene Katze wie einst Dr. No bei James Bond

Eine "einfache Geschichte Komma hundert Seiten" nennt Esterházy, der 1950 in Budapest geboren wurde und dort lebt, wenn er nicht gerade im Ausland unterwegs ist, seinen Roman im Untertitel. Von dieser "einfachen Geschichte" liefert das Buch nun also eine Version (weitere Versionen sind vom Autor in Aussicht gestellt), und da beginnt bereits die schöne Konfusion: Weder ist das nämlich eine einfache Geschichte noch sind es 100 Seiten, die den Leser erwarten. Die "[LETZTE SEITE]" findet sich ungefähr in der Mitte des Buches, und weil manchmal die Zeit einfach stehen bleibt, gibt es die "[einundachtzigste]" gleich fünfmal.

Was Esterházy auf "[HUNDERT]", aber eigentlich 238 Seiten erzählt, ist so geheimnisvoll wie naheliegend: Es dreht sich alles um Ungarn (also die Welt) und, wie immer bei diesem Autor, um die eigene Familiengeschichte, die aufs Engste mit dem Land verbandelt ist. Vordergründig ist seine Erzählung in der Barockzeit angesiedelt (siehe die Kutsche). Die Türken stehen vor Wien; Ungarn haben sie schon geraume Zeit im Würgegriff. In dieser Epoche - zwischen der Schlacht von Mohács (1526) und der Rückeroberung Budas (1686) - geschehen Dinge, die noch heute in Volksseele und Politik nachbeben. Die Ungarn empfinden sich als Opfer der Geschichte, verkauft und verraten, aufgerieben zwischen osmanischem Reich und Habsburger Machtansprüchen. Esterházy zerbröselt diesen fortdauernden Nationalmythos in lose verknüpften Episoden - nicht schlecht ist es, bei der Lektüre ein Lexikon in Reichweite zu haben, um manchem Namen oder Ereignis auf die Spur zu kommen.

Im Mittelpunkt jedenfalls steht Pál Nyáry, der als Doppelagent den sich feindlich gegenüberstehenden Habsburgern Ludwig III. und Leopold zuarbeitet und Geheimverhandlungen führen soll. Vor und hinter den Kulissen wird reichlich konferiert, intrigiert und fraternisiert, und wie auf einer Drehbühne flattern kapitelweise die Figuren am Leser vorbei: die Patriotin Zsófia Pázmándi, ihr Mann Graf Schweidenfeldt, der schwule Koch Zsigmond Kara, Nyárys Burgverwalter Mihály Bárány, der auf den Koch ein Auge geworfen hat; selbst der liebe Gott hat seinen Auftritt, samt schizophrener Katze, die er so hingebungsvoll streichelt wie ein zweiter Dr. No. Es geht bei diesem Figurenkarussell um Macht und Begehren, und beides hat unstrittig miteinander zu tun. Es geht auch um handfestere Dinge: um einen Mord und ums "Ficken" (sehr ausführlich und in allen möglichen Spielarten). Esterházys "Mantel- und Degen-Version" handelt von einer Nation, die noch keine ist, von tragikomischen Helden und korrupten Fürsten, von Verschwörungen und Verschwörern.

Freilich sollte man trotz des Titels keine Musketier-Geschichte erwarten (auch wenn D'Artagnan und Co. zwischendurch einen Cameo-Auftritt haben, ebenso übrigens wie Inspektor Columbo oder John Lennon). Vom 17. springt die Geschichte locker ins 20. Jahrhundert, und das Personal wird wie Pál Nyáry schon mal aus dem 19. Jahrhundert in die Vergangenheit gebeamt. Nyáry ist zudem als fiktiver Vorfahr von Esterházys eigenem Vater zu identifizieren, der als Leitstern oder Komet durch das gesamte Werk des Sohnes schweift: Diesem Vater hat Esterházy in seinem Opus magnum "Harmonia Caelestis" ein Denkmal gesetzt, das nach Bekanntwerden der kommunistischen Spionagetätigkeit von Graf Esterházy senior ein wenig bröckelt; Peter Esterházy schrieb darüber die "Verbesserte Ausgabe".

Péter Esterházy: Die Mantel-und-Degen-Version. Einfache Geschichte Komma hundert Seiten. Aus dem Ungarischen von Heike Flemming. Verlag Hanser Berlin, Berlin 2015. 238 Seiten, 19,90 Euro. E-Book 15,99 Euro. (Foto: N/A)

Von Spionen wimmelt es nun auch in der "Mantel- und Degen-Version". Sie spitzeln mal für die eine, mal für die andere Seite, zuweilen für beide. Irgendwann blickt man nicht mehr recht durch. Aber das ist Konzept. Man durchschaut ja auch heutzutage nicht, wer gerade wen wieder abhört. Was der Sprachvirtuose uns mit seinem Hin- und Herspringen zwischen Formen und Zeiten, Logik und höherem Unsinn erzählen will, bleibt ein unlösbares Rätsel. "Ich sage nicht, ich durchschaue die Absicht, doch seien auch Sie sich nicht so sicher, dass Sie mich durchschauen. Ich bin zwar ein offenes Buch, aber Sie kennen dieses Buch nicht; mag sein, auch ich nicht. Doch spiele ich mit offenen Karten. Aber welches Spiel?"

Das Spiel, ein zauberhaftes dazu, ist die Literatur. Und mit der ist es wie mit dem Leben: Vom geplanten Weg kommt man gerne ab, wenn in Seitengassen kleine Sensationen lauern und nichtsnutzige Zerstreuungen. Bei Péter Esterházy verlocken Fußnoten, und das mit Witz und Esprit, sodass man den Hauptstrang (sic!) zuweilen aus den Augen verliert. Die Fußnoten entfalten ein Eigenleben, manchmal unterhalten sie sich mit dem Haupttext oder ersetzen ihn sogar; es werden darin echte oder falsche Zitate nachgewiesen und absurde Bemerkungen versteckt. Der Autor widerspricht sich, und manchmal widerspricht auch die wunderbare Übersetzerin Heike Flemming dem Autor. Aus Fußnoten erstehen neue Fußnoten, und bald ahnt man kaum noch, wo oben ist und wo unten. Esterházy reagiert mit diesem ausufernden Anmerkungsapparat nebenbei und raffiniert auf einen Plagiatsvorwurf, der ihn bei "Harmonia Caelestis" ereilt hatte. "Wenn wir den Mund aufmachen, reden immer zehntausend Tote mit", heißt es bei Hugo von Hofmannsthal.

"Ich bin zwar ein offenes Buch, aber Sie kennen dieses Buch nicht; mag sein, auch ich nicht."

Was aber bleibt als Moral von der langen ungarischen und kurzen Esterházy'schen Geschichte? Mindestens ein gesunder Zweifel an allen Mythen und großen Erzählungen, an Historienschinken sowieso. Und das Vertrauen ins Fabulieren. 65 Jahre alt ist Péter Esterházy in diesem Frühjahr geworden. Das ironische Lachen aber ist ihm nicht abhanden gekommen, selbst in Ungarn nicht, wo Ministerpräsident Viktor Orbán und seine Gefolgsleute auf chauvinistische Weise zu definieren suchen, was das Ungarsein, die Tradition und das Wir ausmachen. Dabei könnten sie von Péter Esterházy nicht nur lernen, dass die Wirklichkeit immer einen doppelten Boden hat, die Wahrheit irgendwo im Ungewissen liegt, Fakten nach Belieben verdreht werden können. Sondern obendrein, dass die "Ungarn" gar keine Vergangenheit haben, "alldieweil sie stets fort davon tönen, voll lauten Heldenmuts tönen und voll stiller Süße erzählen, jedennoch nicht aus der Vernunft heraus, sich und die Zeit kennenzulernen, die das Vergangene, das Gewesene, das Alte und also sie (die Ungern) formt, sondern um vom Schalle, der Musik der Vergangenheit einzuschlummern, mit unschuldiger Spucke im Mundwinkel, fürwahr wie kleine Kinder." Identitätssuche ist eine komplizierte Sache, und "Ungar sein ist schwer" - sein überhaupt, möchte man hinzufügen.

© SZ vom 29.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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