Umfrage:Exotik des Vertrauten

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Ethnologen, Kuratoren und Aktivisten erklären, was sich in den Museen ändern muss und welche Rolle diese in einer globalisierten Welt spielen könnten.

Westliche Arroganz

Von Kwame Opoku

Wenn es so weitergeht, glaube ich bald an Wunder: Erst erklärte der französische Präsident Emmanuel Macron, dass afrikanische Artefakte aus französischen Museen zurückgegeben werden sollen. Darauf folgte die Meldung, dass Stéphane Martin, der Präsident des Musée du Quai Branly, das die meisten in Afrika geplünderten Werke besitzt, ebenfalls zu Rückgaben bereit ist.

Dennoch legt Martin die Arroganz an den Tag, die sich bei vielen im Westen wie von selbst einstellt, wenn es um Afrika geht. Sie beanspruchen ein offenbar gottgegebenes Recht darauf, Afrikaner zu beaufsichtigen, selbst wenn es um afrikanisches Eigentum geht. "Für mich spricht im Prinzip nichts gegen die Rückgabe dieser Gegenstände, solange dies im Rahmen eines wirklich wissenschaftlichen und kulturellen Projekts geschieht. Die Afrikaner werden dagegen sein, sie werden sagen, es handle sich um Neokolonialismus. Doch Kultur ist heute eine internationale Aufgabe. Wenn ein afrikanisches Museum morgen für geeignete Ausstellungsbedingungen sorgt, würde ich Teile unserer Sammlung jederzeit gern dorthin zurückgeben."

Bei allem Respekt für den Präsidenten des Museums: Dies ist Neokolonialismus par excellence. Würde er ein solches Statement abgeben, wenn es um Rückgabeforderungen für NS-Raubkunst geht? Hat Martin das Recht, uns vorzuschreiben, wie wir unsere Gesellschaft organisieren sollen? Kann er uns seine Modernität aufzwingen, uns sagen, was wir mit unseren eigenen Objekten tun sollen? Wir sind nicht verpflichtet, dem westlichen Lebensstil zu folgen. Wir haben unsere eigenen Vorstellungen vom Leben und vom Fortschritt. Ich würde Martin gerne mit den Worten der Berliner Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy entgegnen: "Wir müssen es denen, die ihre Werke zurückerhalten, selbst überlassen, Lösungen zu finden, die ihnen entsprechen."

Kwame Opoku ist Publizist und Restitutionsexperte. Er lebt in Wien.

Riesenkürbisse und Sexpuppen

Von Sharon Macdonald

Ich wurde Sozialanthropologin, weil diese Disziplin mehr als alle anderen mein Denken durchschüttelte und meine Gewissheiten in Frage stellte. Wie wäre es, in einer Kultur zu leben, in der Hören, nicht Sehen, der wichtigste Sinn ist? Eine Kultur, in der Geister in Steinen, Bäumen und Mobiltelefonen vermutet werden? Oder in einer, in der Dicksein als schön gilt?

Doch mich interessierte nicht Differenz an sich. Ich wollte mit einem neuen und fragenden Blick auf meine eigene Kultur und Gesellschaft sehen. Anthropologin zu werden, hieß für mich, darüber nachzudenken, wie wir leben, welche Welten wir erschaffen und wie anders alles sein könnte. Es ging darum, Bedeutung im scheinbar Banalen zu sehen, Beziehungen, die sonst verborgen sind, und die Kontingenz des scheinbar Alternativlosen zu erkennen.

Ethnologische Museen haben genug Material, um in diesem Sinne wirklich anthropologisch zu sein. Doch sie sind es selten. Ein gutes Beispiel dafür ist die Schau "Persona: Etrangement humain", die letztes Jahr im Pariser Musée du Quai Branly gezeigt wurde und sich mit der Menschlichwerdung von Unbelebtem beschäftigte. Zu sehen waren Fetischfiguren aus Benin, Ouija-Bretter, Roboter und Sexpuppen.

Ethnologische Museen begrenzen sich unnötig, wenn sie sich auf außereuropäische Kulturen beschränken - und sie verstärken damit den Dualismus zwischen europäischen und außereuropäischen Gesellschaften. Die Idee der "Multiperspektivität" geht in die richtige Richtung, aber nicht weit genug, weil sie zu sehr auf spezifische Sichtweisen setzt. Sich mit den politischen Dimensionen des Museums auseinanderzusetzen, die Sammlungsgeschichte zu erforschen und Beziehungen mit Vertretern der Herkunftsgesellschaften aufzubauen, ist wichtig, aber reicht nicht aus.

Um das ethnologische Museum wirklich zu dekolonialisieren und ihm neues Leben zu geben, müsste man ganz neu anfangen. Man müsste auch Europa in all seiner Vielgestaltigkeit zu seinem Thema machen. Mit Ausstellungen zu weniger erwartbaren Sujets, Ausstellungen, die Kulturen durchkreuzen und neue Seh- und Denkweisen eröffnen. Ausstellungen zu Themen wie Bürokultur, materiellem Exzess, dem Leben mit Hunden, zum Zerteilen und Tauschen von Körpern (vom Organspenden und dem Organhandel bis zu der Frage der human remains). Ich wünsche mir eine Ausstellung zum seltsamen kulturellen Typus der Kunstgalerie, vielleicht gegenübergestellt einer zur Kultur der Züchter von Riesenkürbissen, den Häusern, die die Bewohner der Trobriander-Inseln für Yams bauen, und den Sitten und Gebräuchen der Mitglieder von Harley-Davidson-Clubs. Und auch das Humboldt-Forum selbst wäre natürlich ein dankbares ethnologisches Projekt.

Sharon MacDonald ist Direktorin des Centre for Anthropological Research on Museums and Heritage der Berliner Humboldt-Universität.

Zerstörung ist Leben

Von Mirjam Brusius

Muss ein Museum es aushalten, wenn ein Objekt repatriiert wird, um dann von den ursprünglichen Besitzern rituell zerstört zu werden, weil deren Tradition es so verlangt? Die Kuratoren im Macleay Museum der University of Sydney sagen: Ja.

In Australien sehen sich Museen zusehends gedrängt, mit indigenen Gemeinschaften zusammenzuarbeiten. Die Kuratoren im Macleay Museum diskutieren mit deren Vertreten mittlerweile ihre Ausstellungskonzepte. Ein Neubau wird einen Raum für Zeremonien enthalten, damit im Museum verbliebene Objekte nicht länger ihrem Zweck entfremdet werden. Das Museum wird Schnittstelle zwischen aufgearbeiteter Kolonialgeschichte und gelebter Kultur.

Ausstellungstexte in indigenen Sprachen oder Führungen aus Sicht der Herkunftsländer müssten heute selbstverständlich sein. Im Museum of Archaeology and Anthropology in Cambridge sah ich neulich eine Ausstellung über die indische Minderheit der Adivasi. In enger Zusammenarbeit mit diesen wurden die kolonialen Umstände erklärt, unter denen die Objekte nach Cambridge kamen. Neue Artefakte wurden bei indigenen Gemeinschaften in Auftrag gegeben, um zu zeigen, dass es sich nicht um ausgestorbene Traditionen handelt. Die Spannung zwischen Selbstreflexion und gelebter materieller Kultur erfahrbar zu machen, würde Museen so viel interessanter machen.

Mirjam Brusius forscht am Deutschen Historischen Institut London und an der Oxford University.

Die Schaffung des Fremden

Von Jürgen Zimmerer

Traditionelle Völkerkundemuseen sind überholt. Stillten sie einst das Interesse des europäischen Bürgertums an fernen Gegenden und exotischen "Kulturen", so erledigt das heute die Fernreise und der Youtube-Kanal.

Geblieben ist ihr problematisches Erbe. Indem sie versprachen, ganze Kulturen durch einige wenige materielle Objekte zu präsentieren, schliffen sie Unterschiede innerhalb einzelner Gesellschaften glatt und betonten zugleich Differenzen zu den Betrachtenden. Sie standen deshalb in einer symbiotischen Beziehung zum europäischen Kolonialismus: Zum einen stammten viele ihrer Objekte aus kolonialen Kontexten, zum anderen diente das von ihnen popularisierte Bild der "Primitivität"zumindest implizit der Rechtfertigung europäischer Kolonialherrschaft.

Die Frage nach der Provenienz kolonialer Objekte ist relativ einfach zu lösen. Die Herkunft muss erforscht und transparent gemacht werden. Wenn man sich von einem Teil der Objekte trennen muss, wird deshalb kein Museum leer stehen.

Viel schwieriger ist hingegen der Umgang mit dem intellektuellen Erbe des kolonialen Diskurses. Völkerkundemuseen waren in zentraler Weise an der Andersmachung Fremder und an kultureller Hierarchisierung beteiligt. Diese Vorstellungen leben bis heute fort. Diesen Prozess und seine Auswirkungen zu thematisierten, würde den Museen die Existenzberechtigung garantieren.

Jürgen Zimmerer ist Professor für Globalgeschichte an der Universität Hamburg.

Kolonialismus der Gegenwart

Von Larissa Förster

Was wäre, wenn sich die großen europäischen mit den großen afrikanischen Museen und mit Verantwortlichen und Experten aus den Herkunftsgesellschaften zusammensetzten und die Fragen von kolonialem Erbe, Provenienz, Restitution, Austausch und Zusammenarbeit diskutierten? Kolonialismus ist kein rein historisches Thema. Über Kolonialismus nachzudenken, schärft den Blick für die Gegenwart: für globale Verflechtungen, Machtasymmetrien und ökonomische Ungleichheit. Welche Auswirkungen haben sie auf den Alltag heute? Was sind Möglichkeiten des Widerstands gegen Globalisierung oder Digitalisierung? Was sind Gegenentwürfe - reale wie fiktionale? Das sind kulturanthropologische Fragen, die mich mehr interessieren als die Darstellung einzelner "Kulturen" und Gesellschaften.

Larissa Förster ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Centre for Anthropological Research on Museums and Heritage der Humboldt-Universität in Berlin.

Brief an Angela Merkel

Von Mnyaka S. Mboro und Christian Kopp

Nachdem im November Präsident Macron die Rückgabe afrikanischer Kulturschätzen und menschlicher Überreste aus der Kolonialzeit angekündigt hat, haben wir mit 50 Organisationen Kanzlerin Angela Merkel aufgefordert, sich anzuschließen.

Die Rückgabe von kolonialem Beutegut ist seit Jahren eine Hauptforderung von Menschen hier und in Afrika, deren Vorfahren von Deutschen kolonisiert, beraubt oder selbst als Forschungsobjekte missbraucht worden sind. Hierfür braucht es eine nationale Regelung. Die von den indigenen Bevölkerungen in den USA, Australien und Neuseeland vor Jahrzehnten erstrittenen Rechte an ihren Kulturgütern und Verstorbenen könnten als Vorbild dienen.

Kern einer solchen Regelung muss die Pflicht der Museen sein, die Provenienzen der Objekte nachzuweisen und die Zustimmung der Herkunftsgesellschaften dafür einzuholen, dass ihr kulturelles Erbe weiter in hiesigen Sammlungen bleiben darf. Wer den dafür notwendigen transnationalen Dialog nicht als einzige Chance zur Rehabilitierung postkolonialer Völkerkundemuseen begreift, sei an Monika Grütters' Einsicht vom Juni 2015 erinnert. Angesichts der Proteste von Nachfahren Kolonisierter beim Richtfest für das Humboldt-Forum erklärte die Kulturstaatsministerin: "Wir können hier ehrlichen Herzens nur das zeigen, was von den Herkunftsvölkern auch ehrlichen Herzens hiergelassen wird."

Mnyaka Sururu Mboro ist Lehrer und Menschenrechtsaktivist. Christian Kopp ist Historiker. Beide sind im Vorstand des Vereins Berlin Postkolonial.

Niemand besitzt Kriegsgötter

Von Chip Colwell

In der Hochwüste des nordwestlichen New Mexico befindet sich ein heiliger Schrein. An einer alten Sandsteinmauer lehnen Dutzende geschnitzte Holzskulpturen, die "Ahayu:da" genannt werden. Seit unzähligen Generationen feiern die Häuptlinge des Zuni-Stamms Rituale zur Geburt von zwei Ahayu:da. Die Ahayu:da sind knapp einen Meter groß, haben menschenähnliche Gesichter und sind in Federn, Muscheln und Türkis gekleidet. Wenn die neuen Ahayu:da eingeweiht sind, werden die Ahayu:da des Vorjahres feierlich verabschiedet. Sie werden zu dem Schrein gelegt, wo ihre Kraft in die Erde hineinstrahlt. Für die Zunis sind diese Schnitzereien keine Artefakte. Sie sind lebende Wesen. Sie sind Kriegsgötter, deren Aufgabe es ist, die Zuni zu schützen und das Universum im Gleichgewicht zu halten.

Vor über einem Jahrhundert begannen Diebe, Ahayu:da aus den Schreinen zu stehlen. Was wurde aus ihnen?

Im Jahr 2014 reiste ich mit Octavius Seowtewa, einem Stammesältesten und Medizinmann, nach Berlin. Wir besuchten das Ethnologische Museum, wo es zwei Ahayu:da gibt. In den USA wurden alle Ahayu:da zurückgegeben, die sich in Museen befanden, bis heute sind es mehr als 100. 1979 begann die Heimkehr der Figuren. Damals gaben die Museumsdirektoren zu, dass die Ahayu:da in ihren Sammlungen gestohlen sein mussten. Niemand kann Kriegsgötter besitzen. Es sind heilige Wesen, die unter der gemeinsamen Aufsicht des Stamms stehen.

Als Octavius nach den Ahayu:da im Ethnologischen Museum in Berlin fragte, hieß es dort, es sei unwahrscheinlich, dass diese zurückgegeben würden. Man könnte hinter dieser Antwort einen verspäteten kolonialen Ehrgeiz vermuten, ein exotisches Objekt zu besitzen, Macht darüber zu haben. Für mich sprach daraus eher das ernsthafte Bedürfnis, etwas so Wundervolles zu beschützen. So ehrenwert das allerdings ist, irgendwann muss sich das Museum einem entscheidenden Paradox stellen: Seine Bemühungen, diese Objekte zu bewahren, tragen zur Zerstörung eben jener Gesellschaft bei, der sie entstammen. Die Zuni-Kultur, die kurz vor der Auslöschung steht, ist nicht vollständig ohne die Ahayu:da. Der Versuch des Museums, die Zunis zu ehren, untergräbt in Wahrheit die Traditionen des Stammes und verletzt seine Rechte.

Museen sind mehr als Lagerhäuser der Toten. Sie zeigen uns die Schönheit der Kunst, erhalten die Wunder der Natur, lehren uns die Geschichte. Jetzt können Museen auch Instrumente für das kulturelle Überleben sein. Indem sie die größten Heiligtümer eines Stammes zurückführen, erhalten Museen etwas, das noch wichtiger ist als Sammlungen: lebendige kulturelle Diversität. Wenn die Ahayu:da in ihrem Schrein unter den Sternen inmitten der Zuni-Familie wieder zu Hause sind, verliert die Menschheit nichts, sie gewinnt nur.

Chip Colwell ist Chefkurator für Anthropologie im Denver Museum of Nature & Science und Autor des Buchs "Plundered Skulls and Stolen Spirits: Inside the Fight to Reclaim Native America's Culture".

Blinde Kuratoren

Von Andreas Schlothauer

Bei der Frage nach einem zeitgemäßen ethnologischen Museum übergeht man in Deutschland gerne das Wesentliche: die Sammlungen. Dies offenbart sich auch beim Berliner Humboldt-Forum. Es fehlt eine abgeschlossene Bestandsaufnahme, und nur sehr wenige Objekte sind wissenschaftlich bearbeitet. Über die große Mehrzahl der Objekte ist lediglich marginales Wissen vorhanden, 20 bis 40 Prozent sind nicht einmal regional korrekt zugeordnet.

Deutschland hat es verschlafen, seine Objekte zu digitalisieren und mit dem Archivmaterial online zu stellen, um die vergleichende Forschung zu erleichtern. In Frankreich, England, Spanien, den Niederlanden und Skandinavien ist meist schon der Gesamtbestand online. Bis Deutschland hier aufholt, wird fehlendes Objektwissen weiter zu jenen unbefriedigenden Themenausstellungen führen, in denen überforderte Kuratoren aus Angst vor Fehlern das ausstellen, was schon immer gezeigt wurde, Stücke oft nicht zum Thema passen und die Texte voller Fehler oder nicht auf dem aktuellen Stand sind. Die vergleichende Forschung würde durch Online-Datenbanken wesentlich vereinfacht - mit einem enormen Einfluss auf die Präsentation der Stücke in Ausstellungen.

Doch während sich in den Depots des Humboldt-Forums die Insekten tummeln, hat die Kulturstaatsministerin als Blendfeuer einstweilen die Themenpalette der "großen Menschheitsgeschichte" vorgegeben und zwei Kunsthistoriker sowie einen Archäologen mit der Ausführung beauftragt. Das "Zeitgemäße" ist stets vergänglich. Wichtiger erscheint daher die Verbesserung des zeitlosen Fundaments.

Andreas Schlothauer ist Ethnologe und Chefredakteur der Zeitschrift "Kunst & Kontext". Übersetzungen: Jörg Häntzschel

© SZ vom 24.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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