Ukrainisches Tagebuch (XLI):Tränen und Küsse für die Tranexamsäure

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"Ich weiß, dass es keine Worte gibt, um O. zu trösten oder zu beruhigen." - Oxana Matiychuk. (Foto: Universität Augsburg/Imago/Bearbeitung: SZ)

Die umkämpfte Stadt Mykolajiw braucht Medikamente, vor allem Augenspülungen für die Soldaten. Direkt an der Front wirbeln die Einschläge den Staub der ukrainischen Steppe auf.

Gastbeitrag von Oxana Matiychuk

Die Tage vor dem Wochenende stehen für uns im Zeichen von Mykolajiw. Meine Freundin O. mit ihrem Mann und ihrer Schwester sind seit ein paar Wochen zurück in ihrer Heimatstadt. Sie wollen zu Hause sein, obwohl die Stadt nur wenige Kilometer von der Frontlinie entfernt liegt und ein kleiner Teil der Region besetzt ist. Die Stadt wird täglich beschossen, O. meint aber, es sei längst nicht so schlimm, wie sie es sich in ihrer Fantasie ausgemalt hat, während sie weit weg waren.

O. und ihr Mann nutzen ihre Kontakte im In- und Ausland ebenfalls, um vor allem Medikamente zu besorgen. "Gestern kam eine Lieferung, und ich habe verstanden, wie schlecht die Lage in den Krankenhäusern ist. Die jungen Ärzte sind fast alle weg, geblieben sind diejenigen, denen alles egal ist, zumindest im Krankenhaus, wo wir waren. Es gibt viele Verwundete, aber es fehlen Ärzte und Medikamente", sagt sie: "Ich hatte das Gefühl, dass allein die Krankenschwestern dort die Stellung halten. Als eine die Schachteln mit Tranexamsäure sah, küsste sie sie und weinte. So viele Leben kann man damit retten, sagte sie."

Ich denke daran, dass ich es schon mal wörtlich so gehört habe - "küsste die Medikamente und weinte". Dabei möchte man denken, dass im regionalen Zentrum direkt an der Frontlinie für solche Sachen gesorgt ist. Ich frage O., was sie sonst noch dringend brauchen, auch wenn wir von hier aus nur kleine Mengen schicken könnten. Repellentien gegen Stechmücken, Augenspülung und eine borhaltige Salbe nennt sie. Was für eine Augenspülung, möchte ich wissen. Für unsere Soldaten an der Frontlinie, weil der Beschuss so intensiv ist und dadurch sehr viel Staub von unserer Steppe in der Luft ist. Was man alles nebenbei so lernt.

Die Freiwilligen sind bestens vernetzt

Ich packe für O. zwei Kisten, zum Glück haben wir tatsächlich noch ein wenig Tranexamsäure von der letzten Lieferung des Universitätsklinikums Halle. Repellentien kaufte S. neulich an, weil danach jetzt verstärkt gefragt wird. Ansonsten gibt es Wasserreinigungstabletten und ein paar spezielle Wasserfilter. Mykolajiw hat ein großes Problem mit der Trinkwasserversorgung, seit das Wasserwerk von einer Rakete beschädigt wurde. Inzwischen gibt es wieder technisches Wasser, aber trinkbar ist es nicht. Hoffentlich ist damit ein wenig geholfen. Augenspülung und Salbe verspricht unser Lagerleiter zum Einkaufspreis zu erhalten, er hat bekannte Lieferanten. Es ergibt tatsächlich mehr Sinn, als direkt in der Apotheke zu kaufen. Wir bestellen jeweils 50 Stück von beiden Artikeln. Am Freitagnachmittag können die Kisten zum Kurierdienst.

An diesem Tag kommt ein Gast bei uns in der Universität vorbei, der ebenfalls aus Mykolajiw ist. Er hat seine Familie nach Lwiw gebracht und fährt nun zurück, schaut aber auch nach den Möglichkeiten, Hilfsgüter aufzutreiben. In Tscherniwzi hat er studiert und noch immer viele Kontakte hier. Jemand riet ihm, ins International Office zu gehen. Die Vorlage eines Schreibens von seiner Freiwilligenorganisation hat er dabei, als S. sagt, er soll eines auf den Namen unseres Rektors verfassen. Ich lese das Verzeichnis der angefragten Güter, es sind Lebensmittel, Kindernahrung und Medikamente, von den letzten ganz "normale" fiebersenkende und schmerzstillende Arzneien, nichts Besonderes.

O. kann wegen des Geräuschpegels kaum schlafen, findet das aber in Ordnung

"Darf ich fragen?", sage ich. "Tscherniwzi liegt fast eintausend Kilometer von Mykolajiw entfernt, wie ist denn die Situation bei Ihnen wirklich, wenn Sie hier nach Hilfsgütern suchen?" Die Versorgung in den Krankenhäusern sei schlecht, auch die Lebensmittel seien knapp, antwortet M. Sie bemühen sich überall um Hilfe, wo sie nur können. Wir können von dem, was aktuell auf Lager ist, einiges abgeben. Dank der Hilfe der Johanniter sind gerade auch Lebensmittel vorhanden. Einen Transport gibt es am Montag, sagt M. Sie sind, wie Freiwillige überall im Land, bestens vernetzt.

Wie geht es sonst in der Stadt? "Unsere Jungs sind militärisch gut ausgestattet, sie zeigen den russischen Arschlöchern täglich die richtige Richtung." Eine verbale Anspielung auf den berühmtesten Satz eines ukrainischen Grenzschützers am ersten Kriegstag, wegweisend für das russische Kriegsschiff und für die ganze russische Horde. Die Aussage von "unseren Jungs" ist identisch mit dem, was mir auch O. schrieb. Sie kann wegen des permanent hohen Geräuschpegels zwar kaum schlafen, aber das sei in Ordnung, "unsere Jungs sorgen schon auch für die Albträume bei den Russen".

Dabei muss man gerechtigkeitshalber mitdenken, dass es nicht ausschließlich um "Jungs" handelt - in den ukrainischen Streitkräften sind laut den aktuellen statistischen Angaben 37 000 Frauen. Doch die meisten Frauen halten natürlich im Hinterland Stellung. Der Krieg ist eben jedermanns Sache.

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