Ukrainisches Tagebuch:Nach der Sintflut

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Oxana Matiychuk arbeitet an der Universität von Tscherniwzi (Czernowitz) im Westen der Ukraine. (Foto: Universität Augsburg/Imago/Bearbeitung:SZ)

Wie ein Laptop und vier Paletten Wasserfilter für Zuversicht sorgen: Notizen aus der Ukraine.

Von Oxana Matiychuk

Die vergangenen zwei Wochen stehen im Zeichen der Sintflut nach der Dammsprengung in Nowa Kachowka. Die Nachrichten und Bilder, die einen erreichen, sind nicht für schwache Nerven. Man freut sich für jeden geretteten Menschen und jedes gerettete Tier. Die Geschichten und Bilder der Nichtgeretteten, der Vermissten und der zerstörten Lebenswelten, deren Reste Richtung Schwarzes Meer treiben, versuche ich persönlich auszublenden, doch ich weiß, dass sie sich im Unterbewusstsein einnisten. Keine Ahnung, was damit später passiert. Ähnlich geht es vermutlich vielen anderen.

Die meisten Menschen wollen möglichst nah an ihrem Zuhause bleiben und hoffen, dass das Wasser schnell weg ist. Doch viele müssen sich mit dem Gedanken abfinden, dass die Wände ihrer Häuser und Wohnungen den Fluten nicht standgehalten haben. Die geretteten Tiere werden dagegen nicht gefragt, wo sie bleiben wollen. Die ohnehin überfüllten Tierheime im ganzen Land bekommen Dutzende neue Zöglinge. 105 Katzen und Hunde werden etwa in das Tierheim in der Kleinstadt Chotyn, 60 Kilometer von Tscherniwzi entfernt, gebracht.

Man spendet für alle möglichen Rettungsaktionen, solange das Geld reicht. Aus allen Regionen gehen Hilfstransporte Richtung Süden, private wie institutionelle. Die Mission Siret der Johanniter-Unfall-Hilfe bringt uns drei Tage nach der Katastrophe vier Paletten Wasserfilter von Global Medic, diese gehen schnell weg: mit unserem Kollegen I., der drei Busse voll mit Hilfsgütern nach Cherson fährt, mit T. und ihrem Mann, die mit ihrem Škoda Richtung Snihuriwka in der Region Mykolajiw aufbrechen, um zu schauen, was in ihrem am Fluss Inhulez gelegenen Heimatort los ist, mit dem Transport des staatlichen Dienstes für Notfallsituationen, wo ein ehemaliger Student arbeitet und uns um Hilfsgüter anfragt. Wir trotzen dem Geschehen mit der alltäglichen Arbeit und hoffen, dass unsere Bemühungen jemandem nutzen.

"Hier ist alles trocken", sagten sie. Seitdem hat sie nichts mehr von ihnen gehört

Ein Lichtblick mitten in dieser Finsternis ist eine kleine persönliche Geschichte. Es meldet sich N. aus Cherson, die schon seit Monaten in Tscherniwzi lebt und von der ich lange nichts gehört habe. Ihr Anliegen hat nichts mit Überflutung zu tun. "Ich weiß, dass Sie einen großen Bekanntenkreis haben. Ich habe eine sehr große Bitte an Sie. Mein Sohn studiert an einer Berufsschule in Cherson, natürlich online. Heute fängt bei ihm das Praktikum an. Er muss Aufgaben machen, für die sein Smartphone nicht reicht. Vielleicht kennen Sie jemanden, der einen gebrauchten, aber noch gut funktionierenden Laptop verkaufen würde", schreibt sie und nennt den Betrag, den sie zahlen könnten, etwa 100 Euro. Es ist die Höhe der staatlichen Hilfe, die sie beide als Binnenflüchtlinge monatlich erhalten.

Ich verspreche, mich umzuhören, und denke als Erstes an zwei unserer alten Laptops, die wir im International Office nicht mehr nutzen. Der eine funktioniert gar nicht mehr, sagt meine junge Kollegin. Ich versuche den zweiten hochzufahren, aber auch der scheint nicht zu wollen. Ich gehe zu unserem Leiter S. und frage, ob wir nicht noch einen haben, den wir leihen können. Und siehe da: S. zaubert einen noch verpackten unter seinem Schreibtisch hervor. Seine Herkunft will er mir nicht wirklich verraten. Es ist ein kleiner Schullaptop von Medion, definitiv für den deutschen Sprachraum gemacht, mit wenig Speicherplatz und ganz wenigen Programmen. Aber für den jungen Studenten M. dürfte es dennoch reichen: Microsoft Office ist drauf, und M. braucht vor allem Word und Excel sowie Google Classroom.

Eine Stunde später kommen die beiden in die Uni, M. setzt sich an den Laptop, alles passt so weit, nur das Installieren von Classroom klappt nicht. Zum Glück ist der technisch versierte Kollege O. dabei und nimmt sich der Sache an. Es geht doch. M. fühlt sich sichtlich unwohl bei dem Ganzen, ich kann gut verstehen, dass er in seinem Alter am liebsten keine Hilfe annehmen möchte. In der Zwischenzeit spreche ich mit N. Sie wohnen nach wie vor in einem Zimmer im Wohnheim der medizinischen Berufsschule. Es ist eng, aber immerhin eine bezahlbare Unterkunft. In Cherson hat sie alles verloren, was sie als selbständige Kleinunternehmerin hatte, das weiß ich noch aus unserem ersten Gespräch.

In Tscherniwzi fand sie einen Job in einem Restaurant - als Tellerwäscherin: "Man muss ja von irgendetwas leben." Ob sie jemanden in der Region haben, die überflutet ist, frage ich. Ja, sagt N., ein Teil der Verwandtschaft ist im kleinen Ort Kardaschynka auf dem linken Dnipro-Ufer im besetzten Gebiet geblieben. Die Kommunikation war sporadisch möglich, telefonieren geht nicht, nur chatten. Mit ihrer Cousine hatte N. wenige Stunden nach der Dammsprengung Kontakt. Sie fragte, ob sie wissen, was passiert ist, und schrieb, dass sie sich in Sicherheit bringen sollen. "Hier ist alles trocken", bekam sie die Antwort. Seitdem hat sie von ihren Verwandten nichts gehört, es gibt keine Verbindung mehr. Eine Situation, in der ich leider nicht mehr trösten kann. Aber wenigstens ist ihr Sohn für das Praktikum versorgt.

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