Übersetzen:Was ihr tollt

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Unter dem Titel "Kannitverstan" erkunden Übersetzer den Irrgarten der Vieldeutigkeit. Sie müssen auch die Welt der anderen Sprache kennen.

Von Christopher Schmidt

Bittet man Hinrich Schmidt-Henkel, einen der profiliertesten literarischen Übersetzer hierzulande, der zugleich Vorsitzender des deutschen Übersetzerverbandes ist, um eine Definition seines Berufs, erhält man eine überraschend einfache Antwort: "Übersetzen ist Schreiben wie der Autor - mit den Mitteln der anderen Sprache", sagt Schmidt-Henkel bündig. Doch wie schreibt man kongenial, wenn man es in einer anderen Sprache tut als der Autor, den man übersetzt? Wo endet die Treue zum Original und wo beginnt bereits der Treibsand der Interpretation?

"Wörter sind so zwiespältig, dass die Bedeutung immer zwischen ihnen durchfällt", wusste schon Shakespeare

Dass allem Übersetzen ein Moment von Fremdheit anhaftet und dass jedes Verstehen "immer zugleich ein Nicht-Verstehen" beinhaltet, das wusste schon der Vater der vergleichenden Sprachwissenschaft, Wilhelm von Humboldt. Die "Verschiedenheit (der Sprachen) ist nicht eine von Schällen und Zeichen", so Humboldt, "sondern eine Verschiedenheit der Weltansichten selbst". Für den Übersetzer heißt das, er muss, um in der Zielsprache eine gleichwertige Wirkung zu erreichen, nicht nur die Ausgangssprache beherrschen, sondern er muss auch die Welt angesehen haben, von der in dieser Sprache erzählt wird. Übersetzer drücken das gerne so aus, dass man ein Land und seine Kultur erst kenne, wenn man wisse, wie es dort in den Hausfluren riecht. Es gilt, sich eine unvertraute Lebenswelt anzueignen. Schwierig wird das, wenn diese Lebenswelt einer vergangenen Epoche angehört, also nicht mehr unmittelbar zugänglich ist. Deshalb, sagt der Shakespeare-Übersetzer Frank Günther, sei es für ihn nützlich, dass er auf dem Land lebt. Bei Shakespeare finden sich unzählige Metaphern, die aus der agrarisch geprägten Kultur seiner Zeit abgeleitet sind. Und da könne uns, die wir dieser Sphäre entfremdet sind, der Bauer auf dem Feld mitunter besser Auskunft geben als jeder gelehrte Textkommentar.

Um Auskunft bittet auch der Handwerksbursche aus einer Kalendergeschichte von Johann Peter Hebel, eines Zeitgenossen Wilhelm von Humboldts. Allerdings missversteht der junge Mann aus Deutschland, den es nach Amsterdam verschlagen hat, die Antworten. Zuerst fragt er einen Passanten nach dem Besitzer eines schönen Hauses, das ihm ins Auge gefallen ist, dann einen anderen nach dem Eigentümer einer reichen Schiffsladung, die gerade an Land gebracht wird, zuletzt einen dritten nach dem Verstorbenen, dessen Leichnam von einem langen Trauerzug zum Friedhof geleitet wird. Und jedesmal sagt man ihm: "Kannitverstan!" Da er der Landessprache nicht mächtig ist, hält er die immer gleiche Antwort, dass man ihn nicht verstehe, für einen Eigennamen und glaubt, es ginge in allen drei Fällen um ein und dieselbe Person.

Gibt es ein besseres Beispiel für die schöpferische Kraft der Sprache als diese Geschichte aus dem "Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes", in der eine kommunikative Fehlleistung eine Person namens Kannitverstan zu erschaffen vermag? Ein Beispiel dafür, dass Sprache die Wirklichkeit nicht nur abbildet, sondern hervorbringt, poetisch im Wortsinne ist, nämlich welterzeugend? Das Phantom des Kannitverstan hat sich denn auch der diesjährige Übersetzertag zur Leitfigur erwählt, und dass dieses Treffen integraler Bestandteil des Münchner Literaturfests ist, passt zu der Aufwertung, die der Beruf des literarischen Übersetzers erfahren hat. Seit der Novellierung des Urheberrechts 2002 ist der Übersetzer auch vor dem Gesetz als Schöpfer eigener Art anerkannt.

In Vorträgen und Gesprächen werden Alida Bremer und Frank Günther, Gunhild Kübler, Christian Hansen und Stefan Weidner die Grenzen des Verstehens bei William Shakespeare oder Emily Dickinson ausloten und der Inspirationsquelle des Nicht-Verstehens nachspüren. Vieles bei Shakespeare sei unübersetzbar, hat Frank Günther einmal gesagt, weil er die Sprache planvoll in den Wahnsinn treibe. Shakespeare selbst schrieb, ein kluger Satz sei "für einen schlauen Kopf nur ein Ziegenlederhandschuh; wie schnell ist die falsche Seite nach außen gestülpt!". Man darf gespannt sein, welche Seite dem Münchner Kannitverstan besser gefällt.

Kannitverstan. Am 19.11. von 14 bis 18 Uhr im Münchner Literaturhaus.

© SZ vom 03.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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